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Grimm, Herman [Bearb.]
Über Künstler und Kunstwerke — 2.1867

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https://doi.org/10.11588/diglit.47239#0182
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DIE COMPOSITION DER WANDGEMÄLDE RAPHAEL’S
IM VATICAN.
Ein Vortrag.
Kaum wird ein Name auf clen künstlerisch Gebildeten einen sol-
chen Zauber ausüben, wie der Raphael’s von Urbino. Unsere Phan-
tasie knüpft an ihn nicht nur den Begriff hoher, ja höchster Voll-
endung, sondern er tritt uns entgegen als einer der wenigen be-
günstigten Geister, denen, wie man sagt, die Götter schon bei der
Geburt ihre schönsten Gaben in die Wiege gelegt haben. Allerdings
lehrt uns die Kunstforschung, dass auch ihm die gereiften Früchte
nicht mühelos zufielen: in den noch erhaltenen Studien liegen uns
die Zeugnisse der ernsten Arbeit vor, die ihn die höchsten Ziele
erreichen liess. Aber während wir in den fertigen Werken anderer
grosser Künstler die Arbeit, die Anstrengung des Geistes er-
kennen, sind in denen Raphael’s die Spuren solcher Mühe und An-
strengung verschwunden; das Werk steht da, fertig, nicht ein ge-
machtes, sondern ein gewordenes; und während wir dasselbe be-
wundernd betrachten, gedenken wir kaum noch des Künstlers und
der Bedingungen, unter denen er es geschaffen. Unser Urtheil, die
Kritik scheint gefangen, gefesselt durch die Macht des Genius.
Und doch lehrt die Erfahrung, dass gerade in den vollendetsten
Schöpfungen der Genius, die eigenste Individualität des Künstlers
keineswegs in freier Willkür schaltet, sondern dass vielmehr in
ihnen das künstlerische Gesetz am reinsten zum Ausdruck kommt,
sich gewissermassen verkörpert; und je grösser, je umfassender die
zu lösende Aufgabe ist, um so mehr werden gewisse allgemeine,
von den Forderungen der besonderen Aufgabe unabhängige, unab-
änderliche und ewige Gesetze Erfüllung fordern und durch den Ge-
nius des Künstlers finden. In solcher Erfüllung liegt aber gerade
dasjenige Verdienst Raphael’s, welches ihm unter allen neuern Künst-
lern seine einzige Stellung sichert, welches ihn wie keinen Andern
den Künstlern des Alterthums als ebenbürtig an die Seite stellt.
Wir empfinden sofort und ohne bewusstes Nachdenken angesichts
jener Werke das Walten jener ewigen Gesetze und gewinnen da-
durch das Gefühl jener inneren Beruhigung und Befriedigung, ohne
Ueber Künstler und Kunstwerke. H. 44.
 
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