zusammenbringell, aber seine ulrvcrminderte poetische Krast
zeigt auch dies kleine, kaum fünf Bogeu starke Werk, um so
mehr, als es vou Tendenz fast völlig frei ist. Gauz gewiß:
der Kirchenälteste, Holzhändler und Kaufmann zlveiter Gilde
Wassili Andrejitsch Brechunvw ist der Weltmensch, sein Knecht
Nikita der ideale Christ Tolstois, und der Ausgang der Novelle
zeigt deu Sieg des duldenden Christentums, das hier mit dem
Menschelrtlilu geuau zusalmnensällt, aber das Werk lvirkt durch
reine Darstellung. Erfindung uud Haudluilg siud auf eill
Mindestnlaß beschränkt, sind eigentlich gar nicht vvrhanden: der
Kausmann lvill mit diikita in eineu benachbarteu Ort fahren,
um eineu vvrteilhaften Waldkauf abzuschließen, er verirrt sich
wiederhvlt im Schneesturm, läßt aber nicht ab uud kommt um,
während Nikita, der viel Schwächere und Schlechtergekleidete,
am Lebeu bleibt — das ist alles. Aber was machte Tolstoi
aus der Erzähluug der Fahrt! Zuuüchst die Darstelluug der
Umgebung, in der Herr und Knecht leben, dann der russischeu
Winternatur, bäuerlicher Feststimmuug, der Frage der Bodeu-
verteilung (die allerdiugs etwas aus dem Rahmeu der dlovelle
herausfällt), daraus des Kampfs mit dem Schueesturm, der
vergeblichen selbstischeu Flucht des Herrn, des Erwachens des
menschlichen Zusammenhangsgefiihls iu ihm und des friedlichen
! Endes — das sind die einzeluen Stationen der Erzählung, die
aber vvn dem Reichtum des Details keinen Begriff gebeu. Der
Blick, deu Tolstoi in die russischen Verhältnisfe und die russische
Volksseele thun lüßt, ist ebenfo tief und erschöpfend wie fesselud;
seine Menfchen sind wieder von überzeugender Naturtreue, und
zwar sind nicht blos die Haupt , auch manche dfebenpersonen
hinreichend charakterisiert. Als Bild im ganzen genommen,
hat auch dies kleine Werk eine Größe, wie sie kein audrer mo-
derner Schriststeller erreicht, und daß es vollstündig kunstlos
erscheint, hebt noch alle Vorzüge. Brechunows vergeblicher
Rettungsversuch, Nikitas Ergebung, die Umwandlung Brechu-
uvws, daß er, der reiche Herr, deu armen Knecht mit seinem
Leibe deckt, das siud Höhepuukte der Darstellung, die auch die
grandioseste Phantasie nicht zu übertreffen vermag, und sie sind
nur reine Wirklichkeit, mag man immerhin in uuserm Westeuropa
die Möglichkeit jener Umwandlung bezweifeln. Eiu kleines
Bild mit gewaltigem sozialen Hiuter- und Gefühlsuntergruud
— das ist die neue Erzähluug Tolstois. Freilich schrieb ich
unter dem ersten Eindruck, aber es gicbt Werke, die wie Natur-
ereignisse wirken, und da läßt man deu Kunstverstand am
besteu einmal zu hause. Adolf Barlels.
Fahiieufl u ch t. Novelle vvn E r u st v o u Wol -
zoge n. (Berlin, F. Fontane L Co.)
Eine Geschichte, auf deren Hintergrund das Thema der
Svldateilmißhandlungeil vorüberzieht, ohne je in den Vorder-
grund zu treten; man darf nicht sagen, daß Wolzogen dieses
Thema in seiner „Fahnenflucht" noveltistisch behandett habe.
N'äher dcm Mittelpunkte des Gescheheus steht die Frage vvn
der Notweudigkeit des „Drills" , denu dem Füselier Gottlieb
Quaritsch würde es nach des Versasfers Meinung wohl nicht
so schlimm ergehen, käme es bei unserer Armee uur auf die Er-
ziehung zu guten Kriegsleuten, nicht auch zu Paradegegeuständeil
au. Deun zum Paradeschritt u. s. w. sind dem Burschen die
Beine zu steif uud uilgelenk, — ein Erbteil seiner Familie, das
er nun büßen muß. Denn ihn, um dessenwilleu oft nach-
ezerziert iverden muß, schinden Unteroffiziere und Kameradeu
zur Rache nnch Krüften. Der arme verprügelte Kerl hat nun
einmal ein paar gute Tage rm Lazaret, dauu aber, als er zu-
rück in seiu Kasernenelend gekommen ist, läßt er sich am Svnu-
tag Nachmiltag verlockeu, noch „revierkrank" und ohue Urlaub auf
eine Stunde ins Feld zu gehen, dac' ihn so heimatlich anmutet.
Eiu Landsmanu, der iu eiuer auderen Kompagnie dient, lockt
ihn weiter in ein Dorfivirtshaus, uud da lerut er eine kennen,
der seine Tölpelhaftigkeit gut genug ist. So versäumt er die
Zeit, und nun ists zu spät, und nnu hat er Angst vor der
Rückkeyr und so wird er „fahnenflüchtig". Er fängt das äußerst
dumm uud plump an und verunglilckt fchließlich, als er vor
eiuem Geusdarmen flieht.
Dic Erzühlung würe rein naturalistisch durchgeführt, hätte
Wolzogeu zum reineu dstrturalisteu nicht zu viel Poetenblut in
sich, so aber seht er da uud dort ivärmere Töue, Glanzlichter,
Schatten ein. Als sehr angenehiu zu lesen ivird ja diese
„Fahneuslucht" troüdem nicht ebeu vieleu erscheineu. Abcr
eiue,gute realistische Charakteristik ist sie. Nur hätte der Herr
Verfasfer seine Leute iu einem Dialekt reden lasfen sollen, den
er beherrscht; das hier verzapftc Süchsisch, das wohl Leipzigerisch
sein svll, ist recht fragwürdig.
M ü h l e u g e f ch i ch t e u von Lu ise Sche n ck. (Bres-
lau, Eduard Trewendt.)
Luise Schenck ist eine Schleswig-Holsteinerin, die das Ge-
schick schon weit durch die Welt geführt zu haben scheint
wenigstens spielen ihre ersten novellistischen Berösientlichungen
auf brasilianischem Bodeu. Mit dem vorliegendeu Buche kehrt
sie iu die Heimat zurück und gibt in drei zusammenhängenden
Novellen die Geschichte einer Müllerfamilie, die einer starken
Anziehuilgskraft sicherlich nicht entbehrt uud die Verfasserin ihrem
Talente nach zwar nicht in die erste Reihe der dichterisch schöpfe
rischen Frauen, doch gleich hinter diese stellt. Es ist ein starkes
Heimatgefühl, eine reiche Heimatstiiniiiung in deu drei Erzäh-
lungen, wie sie dem Volksstamm, dem Luise Schenck angehört,
bekanntlich in besonders hohem Maße eigen, und so will ich denn
zumal die Verehrer Storms auf diese Schriftstellerin aufmerksam
macheu. Aber Luise Scheuck weiß auch Menscheu zu gestalten,
und nur hin und wieder trifft mau Züge, die au die Marlitt,
die Heimburg in ihren besferen Erzeuguisseu erinnern. Mich
sollte nicht wundern, wenn Luise Schenck eines Tages ein Lieb-
ling der deutschen Frauenwelt würde, und sie würde es eher
verdienen, als manche Berühmtere. Nebenbei darf ich hier
vielleicht an eine andere Schleswig-Holsteineriu, die neuerdings
zu Ruf gekommen, an Charlotte Niese erinnern. Jhr Talent
ist freilich weit anderer Art. Adolf Bartels.
* Scbrttten über Lttcratur.
Ieau P> au l uud f e i u e B ed e u t u u g für die Ge-
genwar t. Von I osef M ülle r. (München, I)r. H. Lüne-
burg.).
Auch wer nicht mit dem Verfasser des vorliegenden Werkes
auf dem gleichen prinzipiellen Standpunkt steht (eineiu Staud-
punkte, der in nicht zur Sache gehönger uud überflüssiger Breite
in der Schlußbetrachtung betont ist), der wird doch durch das
Lesen der fleißigen und geistvollen Monographie reichste Aure-
gung erfahreu. Mau merkt überall, wie sehr der Stoff durch
dacht ist, uud man freut sich wahrzunehmen, wie gut er gestaltet
ist. Der Verfasser will keine chronologische Monographie geben;
er legt nicht Wert auf Beibringung neuer Einzelheiteu über Hi-
storisches und Persönliches; er ivill durch Versenknng in den
innersten Kern der Jndividnalität, durch Aufsuchuug des geistigen
Bandes, das die vielfachen, fast widerspruchsvollen Elemente
im Charakter Jean Pauls zu harmonischer Einheit verknüpft,
uns den Dichter näher bringen; er will eine Ch a rakterana
lyse geben. Demgemäß betrachtet er Jean Panl als Men-
schen, als Philosophen und Moralphilosophen, und widmet je
ein Kapitel den Ansichten des Mannes über Religion, Pädagogik,
Ästhetik, Dichtnng, Sprachtheorie nnd Politik.
Zunächst versucht der Verfasser die Einheitlichkeit zu finden
für die svnderbare Natur Jean Pauls mit dem so merkwürdigen
Gegensatz zwischen höchster Empfindsamkeit nnd krassem Zynis-