Lrttes Maibett 1SSZ.
Getcliicktlicke Ltotke.
(Schluß.)
Nein, der Dichter wählt den geschichtlichen Stoff
ganz sicher nicht aus Bequemlichkeit, um sich selbst
keine Fabel und keine Charaktere schaffen zu müssen,
er wählt ihn genan so, wie er jeden anderen Stosf
wühlt, oder richtiger, es ergreift ihn an einem histo-
rischen Stoffe genan das, was ihn an einem anderen
ergreift. Ob es die Geschehnisse oder die Charaktere
sind, kann nur für den einzelnen Fall festgestellt werden,
es hängt von der Art des dichterischen Talents ab;
anch kann es weniger als beides, vielleicht nur die
aufbtitzende Jdee oder eine mit der betreffendeu Zeit
znsammenhängende Stimmung sein, die Geschehnisse
oder Charaktere in eigenartiger Beleuchtung zeigt.
Jedenfalls entspringt des Dichters Jnteresse oder meinet-
wegen Begeisterung stets jenem dichterischen „Gefühl",
das man als innige Teilnahme am Leben und Menschen-
geschick, als Freude an der Fülle und der Verschieden-
heit der Erscheinnngen der Welt, als oft auch schmerz-
lichen Drang, alles in sich selber durch- oder doch
nachzuleben, näher zu bestimmen sucht, jenem Gefühl,
das als physischen Untergrnnd die .,Reizbarkeit der
Nerven" oder allgemeiner die entwickeltere Konzeptions-
sähigkeit des Dichters hat, aber als rein seelischer Natur
mit ihm nicht identisch ist. Mit der Poetischen An-
schauung, deren Dienerin die Phantasie ist, steht es in
innigstem Bunde, ist allen wahren Dichtern gemein-
schaftlich, aber selbstverstündlich stets individualisiert
j vorhanden. Bestandteile dieses Gefühls können auch
die Heimat- und Vaterlandsliebe, die Verehrung großer
Männer sein; so sicher Lessing recht hat, wenn er ver-
langt, daß die Tragödie nicht zn cinem bloßen Panegy-
rikus und zur Nährnng des Nationalstolzes mißbrancht
werde, immerhin können Motive dieser Art als Reiz
znr Behandlung eines geschichtlichen Stoffes mitwirken:
aber die Behandlung selber wird dann beim echten
Dichter weit über alle Einseitigkeiten hinansführen. Jst
ein historischer Stosf erfaßt, hat er gezündet, so wird
sich nnn der Dichter alle Mühe geben, ihn nach jeder
Richtnng zn erforschen nnd zn dnrchdringen: Genie ist
nicht Fleiß, aber es hat den Fleiß und wendet jede
Sorgfalt an. Er wird zn den Quellen hiuabsteigen, aber
anch die spüteren Geschichtsschreiber nicht nnberücksichtigt
lassen, überall nach charakteristischen Zügen, nach Form
nnd Farbe suchend, nnd so werden ihm Menschen nnd
Dinge immer klarer und plastischer entgegentreten. Der
rechte Historiker muß ein Stück Dichter sein, hat man
vielfach gesagt, nnd es ist richtig, er muß wohl dich-
terisch schauen können, um das nötige Material für
seine dann mehr verstandesgemäße Thütigkeit zn be-
kommen. So intensiv wie das des Dichters ist aber
das Schauen des Geschichtsschreibers schwerlich je, für
jenen erwachen die geschichtlichen Gestalten und Zustünde
wieder zu wahrhaftem Leben, er sieht nicht nnr das
Äußere seiner Menschen, er sieht ihnen vermöge der ihm
eigentümlichen Einsicht in die Menschennatnr, die gar
nicht gelernt werden kann, auch bis ins tiesste Herz.
Und damit ist zn dem geschichtlichen Stoffe genan das
nümliche Verhältnis eingetreten, wie das zn einem aus
Getcliicktlicke Ltotke.
(Schluß.)
Nein, der Dichter wählt den geschichtlichen Stoff
ganz sicher nicht aus Bequemlichkeit, um sich selbst
keine Fabel und keine Charaktere schaffen zu müssen,
er wählt ihn genan so, wie er jeden anderen Stosf
wühlt, oder richtiger, es ergreift ihn an einem histo-
rischen Stoffe genan das, was ihn an einem anderen
ergreift. Ob es die Geschehnisse oder die Charaktere
sind, kann nur für den einzelnen Fall festgestellt werden,
es hängt von der Art des dichterischen Talents ab;
anch kann es weniger als beides, vielleicht nur die
aufbtitzende Jdee oder eine mit der betreffendeu Zeit
znsammenhängende Stimmung sein, die Geschehnisse
oder Charaktere in eigenartiger Beleuchtung zeigt.
Jedenfalls entspringt des Dichters Jnteresse oder meinet-
wegen Begeisterung stets jenem dichterischen „Gefühl",
das man als innige Teilnahme am Leben und Menschen-
geschick, als Freude an der Fülle und der Verschieden-
heit der Erscheinnngen der Welt, als oft auch schmerz-
lichen Drang, alles in sich selber durch- oder doch
nachzuleben, näher zu bestimmen sucht, jenem Gefühl,
das als physischen Untergrnnd die .,Reizbarkeit der
Nerven" oder allgemeiner die entwickeltere Konzeptions-
sähigkeit des Dichters hat, aber als rein seelischer Natur
mit ihm nicht identisch ist. Mit der Poetischen An-
schauung, deren Dienerin die Phantasie ist, steht es in
innigstem Bunde, ist allen wahren Dichtern gemein-
schaftlich, aber selbstverstündlich stets individualisiert
j vorhanden. Bestandteile dieses Gefühls können auch
die Heimat- und Vaterlandsliebe, die Verehrung großer
Männer sein; so sicher Lessing recht hat, wenn er ver-
langt, daß die Tragödie nicht zn cinem bloßen Panegy-
rikus und zur Nährnng des Nationalstolzes mißbrancht
werde, immerhin können Motive dieser Art als Reiz
znr Behandlung eines geschichtlichen Stoffes mitwirken:
aber die Behandlung selber wird dann beim echten
Dichter weit über alle Einseitigkeiten hinansführen. Jst
ein historischer Stosf erfaßt, hat er gezündet, so wird
sich nnn der Dichter alle Mühe geben, ihn nach jeder
Richtnng zn erforschen nnd zn dnrchdringen: Genie ist
nicht Fleiß, aber es hat den Fleiß und wendet jede
Sorgfalt an. Er wird zn den Quellen hiuabsteigen, aber
anch die spüteren Geschichtsschreiber nicht nnberücksichtigt
lassen, überall nach charakteristischen Zügen, nach Form
nnd Farbe suchend, nnd so werden ihm Menschen nnd
Dinge immer klarer und plastischer entgegentreten. Der
rechte Historiker muß ein Stück Dichter sein, hat man
vielfach gesagt, nnd es ist richtig, er muß wohl dich-
terisch schauen können, um das nötige Material für
seine dann mehr verstandesgemäße Thütigkeit zn be-
kommen. So intensiv wie das des Dichters ist aber
das Schauen des Geschichtsschreibers schwerlich je, für
jenen erwachen die geschichtlichen Gestalten und Zustünde
wieder zu wahrhaftem Leben, er sieht nicht nnr das
Äußere seiner Menschen, er sieht ihnen vermöge der ihm
eigentümlichen Einsicht in die Menschennatnr, die gar
nicht gelernt werden kann, auch bis ins tiesste Herz.
Und damit ist zn dem geschichtlichen Stoffe genan das
nümliche Verhältnis eingetreten, wie das zn einem aus