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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 8.1894-1895

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Heft 24
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11729#0389

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* Ikunstltteratur.

Adreßbuch von bildenden nnstlern der
Gegenwart. Begründet von Gustav Teichelmann.
Jahrg. ;8y6, herausgegeben von AdolfBoth e. (München,
Selbstverlag des Herausgebers sBruderstr. saf Mk. 25)
Das kleine Büchlein rvird trotz seines hohen Preises
von Vielen gekauft werden, denn für alle, die nrit
Architekten, Bildhauern, Malern, Kupferstechern, Zeichnern
u. s. w. viel zu thun haben, ist es ja rvirklich beinahe
„unentbehrlich." Ob es zuverlässig ist, kann man nur
nach Stichproberr beurteilen. Wir haben das in ziernlich
ausgiebiger Weise gethan und dabei auf unsere Fragen
imnrer die richtige Antmort bekommen.

vernliscdtes.

* Scbritteu über Ncstbetik.

Aesthetik uud ^ 0 z i al w is s ens ch as t. Drei Aus-
sätze von Max Burckhard. sStuttgart, I. G. Cottasche
Buchhldg Nachf. Mk. t-so.)

Die drei Aufsätze, die der Direktor des Vurgtheaters
hier vereinigt hat, behandeln: „Die Kunst und die soziale
Frage", „Volkstümliche Klassrkeraufführungen", „Die Kunst
und die natürliche Entrvicklungsgeschichte". Burckhard hat
wohl daran gethan, sre herauszuheben, obgleich er nicht
die Zeit finden konnte, sre einheitlich zusammenzuarbeiten.
Denn die kleine Schrist ist so inhaltreich, daß jeder Leser
über äutzerliche Ungleichmüßigkeiten gern hinwegsehen
wird.

Mit einer Bestimmung des Begrisfs „soziale Frage"
beginnt der erste Aufsatz; Burckhard weist darauf hin,
daß diese Frage so alt sei wie die Menschheit selbst, denn
sie sei ja nichts anderes als die Frage nach dem Ent-
wicklungsgange der Menschheit. „Jede Entrvicklung
braucht eine treibende Kraft, und diese beruht in dem
Widerstreite der verschiedenen Elemente, die in dem ein-
seitigen Bestreben, sich zu behaupten, sich insgesamt fort-
rvährend wechselseitig veründern". Die menschlichen Jn-
dividuen sind darin die Kämpfer, ihre eigentlichen Waffen
sind die Jdeen, die sich aus den mechanischen Kämpfen
der Jndividuen um ihre Daseinsbedingungen herausge-
bildet haben, die selbst Gegenstände des Streites und selbst
im Streite gemodelt werden. Beide Grundideen, die ethische
und die aesthetische, haben sich aus den rohen animalischen
Trieben der Menschheit herausentwickelt, mit der Zeit aber
selbständig gemacht. „Der Kunstsinn ist hervorgegangen
aus denr Schönheitssrrrn, und dieser entsprang aus den
Eindrücken, rvelche einerseits gewifse für die Entwicklung
der Gattung fördcrliche Körpereigenschaften auf die Jn-
dividuen dieser Gattung, arrderseits die Erscheinurrgen der
umgebenden Natur auf die inneren Stimmungen, insbe-
sondere auf das ganze Liebesleben üben. Aber der Schön-
heitssinn ist über seine unmittelbare Entstehungsursache
hinausgewachsen. Weil er nicht als bewußtes Mittel für
bestimmte Zrvecke ersunden wurde, sondern aus inneren
Bedürfnifsen heraussproß, und seine Wirkungen um so
sicherer eintreten, um so tiefer gehen, um so dauernder
nachhalten mußten, je krüftiger, je selbständiger er wurde,
ist er selbst zu einer schaffenden Kraft geworden, hat Eigen-
schaften und Erscheinungen erfaßt und in seinen Vereich
gezogen, rvelche an sich mit der fortbildenden Entwickelung
nichts zu thun haben, erst durch ihn, den Schönheitssinn
selbst, einen schimmernden Abglanz erhalten, der ihnen
Bedeutung für das Jndividuum, für die Gattung, für die

Gesellschaft verleiht. Es bildete sich die Jdee des Schöncn,
der innere Drang, die Sehnsucht nach dern Schönen als
einem idealen Gute, das um seiner selbst willen begeh-
rensrvert erscheint, und das der Mensch daher selbst dar-
zustellen, seiner Jdee cntsprechend zu gestalten sucht: der
Schönheitssinn ward zum Kunstsinn, einem Schaffens-
drange, der einerseits stets von den streitenden ethischen
und sozialen Jdeen in ihre Dienste gezogen wird, danrit
er durch seine Schöpfungen für sre kärnpfe, der anderer-
seits selbst derAusfluß einer Jdee,fder aesthetischen Jdee ist.
So gewinnt die Kunst eine über den Jnhalt ihrer Dar-
stellungen hinausgehende, von ihm ganz unabhüngige
Macht und Bedeutung, der Kunstsrnn ist zu einem inne-
ren Bedürsnisse, einer inneren Anlage der Menschheit ge-
worden, einer Anlage, welche, gleich der des Verstandes, der
Liebesempfindung, prinzipiell allen Menschen, reich und arm,
hoch und nieder, gebildet und ungebildet, ebenso gemein-
sam ist, wie die Sehkraft, wie der aufrechte Gang, das
Atnren durch Lungen und alle jene anderen körperlichen
Eigenschaften, welche eben in ihrer Gesamtheit das Jndi-
viduum zum Menschen machen. Und in dieser vom kon-
kreten Jnhalt des Kunstwerkes unabhängigen, rein forrna-
len Macht der Kunst auf alle Menschen, welche alle sozia-
len Gegensätze überbrückt, liegt die eigentliche Bedeu-
tung der Kunst sür die soziale Frage, jene Bedeutung,
von welcher ich nunmehr sprechen will."

Der stürkste der sozialen Gegensätze nun, führt Burck-
hard weiter aus, ist nicht der zwischen Arm und Reich
an sich, sondern seine verhüngnisvollste Folge, der Gegen-
satz: „hier Bildung, dort Verkürnmerung der geistigen An-
lagen". „Der Höchste und Niederste, der Reichste und der
Aernrste, der Mächtigste und der Einflußloseste, sie alle
stehen frch nahe, haben tausend Anknüpfungs- und Be-
rührungspunkte, wenn der Zufall sie zusanrmenführt, srnd
durch ein gemeinsames Band verbunden, leben in der
gleichen Welt von Jdeen, in der sie sich srei bewegen und
immer wieder begegnen, wenn sich auch nie im Leben
ihre Schritte kreuzen — eine einzige Voraussetzung braucht
nur zuzutreffen: daß sie beide aus dem Bildungsborne
ihrer Zeit geschöpft haben. Aber wie Menschen verschie-
denen Zeiten, wie Menschen, die verschiedene Sprachen
sprechen, wandeln der Gebildete und der Ungebildete mit-
einander durchs Leben, selbst wenn das Schicksal sie mit
Ketten aneinandergeschmiedet hat. Der Zufall des Augen-
blickes kann alle sozialen Unterschiede im Nu verwischen
oder in ihr Gegenteil verkehren, nur einem gegenüber ist
er machtlos, dem der Bildung, die nur durch jahrelange
innere Arbeit erworben werden kann, die nur Tod oder
Siechtum zu vernichten vernrögen. — Die Sozialökono-
men versichern uns, sie kennen die Wege, rvelche dazu
führerr, den Gegensatz zwischen Arm und Reich aus der
Gesellschaftsordnung zu verbannen — gut, dann wird von
selbst der Gegensatz zwischen Bildung und Unbildung sich
ausgleichen und seinen schroffen Charakter oerlieren, in
harmonisches Verhältnis zum natürlichen Gegensatz zwi-
schen geistiger Fühigkeit und geistiger Energie und Stumps-
sinn und Faulheit treten. Die Sozialpä d a g 0 g en wol-
len den urngekehrten Weg wandeln — die Untersuchung,
welcher von beiden aussichtsreicher sei, nrutz ich anderen
überlassen. Das, worauf ich hinweisen möchte, ist, daß
auch den Höchstgebildeten und den Mindestgebildeten, wenn
er nur menschlich empfindet, doch ein geistiges Band ver-
binden kann, das ist der angeborene aesthetische Sinn,
der angeborene Kunstsinn."
 
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