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Levinstein, Siegfried; Lamprecht, Karl
Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebensjahr: mit Parallelen aus der Urgeschichte, Kulturgeschichte und Völkerkunde — Leipzig: R. Voigtländer Verlag, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.68897#0067
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Zeichnen, eine Sprache
ist fast das Pendant zu Fig. 97 d, ausgenommen, daß die Arme in einer natür-
licheren Weise auf den beiden Zeiten des Körpers angebracht sind. Daß zweifels-
ohne diese frühen künstlerischen Bemühungen symbolischer Natur seien, daß jede
Linie und jeder kreis etwas in dem Gehirne des Kindes bedeuten, zeigen ganz
besonders Fig. 2 und Fig. 98. In Fig. 98 bezeichnete das Kind die kritzel
oben in der Zeichnung als Schnurrbart, unterhalb desselben sind zwei Punkte,
welche die Augen darstellen, das Ganze wird von zwei Beinen aufrecht gehalten,
an jedem Beine ist ein Arm befestigt und die beiden Linien zwischen dem Schnurr-
bart bedeuten den Hut. Diese umrißlose Figur ebenso die Fig. 2 ist augen-
scheinlich auf derselben Entwicklungsstufe wie das Bild auf Seite 315 von
Professor Sullys „Studies of Thildhood", welches aus der Sammlung des Generals
Pitt-Nivers von Zeichnungen der Naturvölker herstammt und von einem er-
wachsenen Uganda-Neger gezeichnet worden war. Buch Karl von den Steinen
gibt in seinem Buche „Die Naturvölker Zentral-Brasiliens" mehrere Abbildungen
von Bleistiftzeichnungen der Bakairi und der Bororo, bei denen der Schnurr-
bart über die Augen gesetzt ist, in einem Falle sogar über den Kopf. Diese
merkwürdige Erscheinung in Anbetracht der sonst so genauen Topographie der
Zeichnungen in Karl von den Steinens Werk läßt sich dadurch erklären, daß
die dortige Bevölkerung fast bartlos, jedenfalls ohne Schnurrbart ist. Kinder
haben auch noch keinen Schnurrbart und wäre dies vielleicht noch ein inter-
essanter Beweis für die Behauptung von Lukens, daß die Kinder beim Zeichnen
der menschlichen Gestalt sich selber zeichnen, daß die Gesichtszüge ihrer Menschen
kindliche sind und daß auch aus diesem Grunde das Kind den hals wegläßt,
weil es seinen eigenen hals nicht sehen kann.
Einem kleinen Mädchen von fünf Jahren wurde gesagt, sie solle das Haus
auf der anderen Seite der Straße abzeichnen. Sie sah zum Fenster hinaus und
produzierte Fig. 99. Die beiden wagerechten Linien sind das Dach, darüber
ist der rauchende Schornstein und die vier kreise darunter sind die Fenster
des Hauses.
Solange das Kind den vollständigen Umriß noch nicht zeichnen kann, läßt
es wahrscheinlich den kompletten Umriß in seinen Gedanken im Stich und gibt
mehr und mehr Aufmerksamkeit denjenigen Teilen der Zeichnung, welche schon
auf das Papier gesetzt sind und wie es fortfährt, legt es besondere Aufmerk-
samkeit auf Wertideen, die in seinem Geiste aufkommen, auf Teile, welche ihm
gefallen, und vervollständigt diese mit allen Details. Möglich, daß solche
Teile der Kopf oder seine Bedeckung oder vielleicht die knöpfe und die
Borte auf einem ausfallenden Nock sind- oder außergewöhnliche Prominenz
wird einer altmodischen Tabakspfeife gegeben, welche in ungelenker weise
aus der Backe herauswächst, weil das in diesem Momente für das Kind
weniger Wichtige, der Mund, der zur Aufnahme der Pfeife dienen soll, über-
sehen worden ist.

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