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Levinstein, Siegfried; Lamprecht, Karl
Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebensjahr: mit Parallelen aus der Urgeschichte, Kulturgeschichte und Völkerkunde — Leipzig: R. Voigtländer Verlag, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.68897#0068
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Abschnitt V

„Interessant ist es, daß das Rind trotz der großen Proportionsfehler und
sonstigen Verzeichnungen, die es begeht, doch durch sie in Illusion versetzt wird.
Das bestätigt nur, daß der Genuß am Bilde nicht von seiner objektiven Über-
einstimmung mit der Natur, sondern von der subjektiven Ähnlichkeit mit dem
Vorstellungsbild, das sich der Beschauer von ihr macht, abhängt." I Eonze
sagt sehr richtig: „Der kindliche Anfang ist nicht sich vor einen Gegenstand
hinzusetzen und ihn abzubilden, sondern die in der Phantasie lebende Vor-
stellung eines Gegenstandes oder einer Handlung aufzuzeichnen." Wir Er-
wachsenen beobachten, denken und sehen meist auf genau dieselbe Weise, nur
daß unser Wissen ein größeres ist. Es ist dies was volkelt meint, wenn er
sagt: „Vie sinnliche Wirkung, die der ästhetische Gegenstand ausübt, ist mit dem
Eindruck auf die Empfindung und Linneswahrnehmung nicht immer beschlossen.
Überaus häufig ergänzt sich die sinnliche Leite des ästhetischen Gegenstandes
noch durch reproduzierte Empfindungen. Die sinnliche Gegenwart des Gegen-
standes erfährt eine Bereicherung und Steigerung,- zu dem, was wir von ihm
sehen, hören oder sonst empfinden, treten noch Empfindungsreproduktionen
hinzu. So wird die sinnliche Wirklichkeit des Gegenstandes erweitert und ver-
stärkt. Der Gegenstand wirkt infolge dieser hinzutretenden Empfindungs-
reproduktionen sinnlich reicher und lebhafter." Leslie hat eigentlich dasselbe
im Auge, wenn er schreibt: „Vie Anziehungskraft einer einfachen Skizze kommt
daher, daß unsere Gedankenvorstellungen sie weit besser vervollständigen, als
es der Bleistift je tun könnte." So tragen wir in das bloße Lehen das
hinein, was wir von den Gegenständen wissen, und wir glauben zu sehen,
was tatsächlich ganz anders aussieht. I Wie können wir da mehr von Rindern
erwarten.
psychologisch gesprochen, zeichnet das Rind nach Vorstellungen und nicht
nach seinen Sinnes - Wahrnehmungen.
Gleich auf den ersten Leiten seines herrlichen „The Laws of Ziesole" sagt
Ruskin: „Das leitende Prinzip aller rechten, praktischen Arbeit und die Ejuelle
aller gesunden Energie liegt darin, daß deine Runst etwas sei, das du liebst."
Rinder zeichnen gerne Personen und Gegenstände, welche sie lieben, anfangs
aber nur in deren Abwesenheit. Wenn sie in natura da sind, braucht ja das
Rind keinen Ersatz für sie in einem Bilde. Um zu sehen was Rinder am
liebsten zeichnen, sammelte Louise Maitland 1570 Zeichnungen von Rindern
im Alter von 5 bis 7 Jahren und 14 bis 17 Jahren, also am Anfang und
am Ende des Schulalters?) Es zeichneten nach ihrer Angabe:
y Lange, Das Wesen der Kunst. Bd. II. p. 34.
2) volkelt, System der Ästhetik. Bd. I. p. 107.
3) Leslie, Handbook for young painters. p. 310.
y Volkmann, Die Erziehung zum Sehen, p. 19.
H Louise Maitland, lvhat children draw to please themselves.

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