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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0025
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des Erwachens, und doch hat er, trotz des eisigen Schweisses auf seiner
Stirne, Worte auf den Lippen, die auszusprechen ihm nicht gelingt, die
er aber ohne Zweifel heute aussprechen könnte, weil die Seele des Lumpen
oder Diebes selbst, der vorüber geht, ihm zum Ausdruck verhelfen würde.
Hamlet würde beim Anblick des Claudius und seiner Mutter jetzt be-
greifen, was er nicht wusste, weil die Seelen, scheint es, sich nicht mehr
in dieselbe Zahl von Schleiern hüllen. Weisst du wohl - und das ist eine
seltsame, beunruhigende Wahrheit - weisst du wohl, wenn du nicht gut
bist, dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass deine Gegenwart dies heute
hundertmal deutlicher offenbart, als sie vor zwei oder drei Jahrhunderten
gethan hätte? Weisst du wohl, wenn du heute eine einzige Seele betrübt
hast, dass die Seele des Landmanns, mit dem du dich über Sturm und
Regen zu unterhalten gehst, benachrichtigt ist, bevor seine Hand die Thür
geöffnet hat? Nimm den Ausdruck eines Heiligen, eines Märtyrers oder
Helden an: das Auge des Kindes, das dir begegnet, wird dich nicht mit
dem gleichen, unnahbaren Blicke grüssen, wenn du in dir einen schlechten
Gedanken, eine Ungerechtigkeit oder die Thränen eines Bruders birgst.
Vor hundert Jahren wäre seine Seele vielleicht vorübergegangen, neben
der deinen, achtlos . . .
In Wahrheit wird es schwer, im Herzen einen Hass, Neid oder Verrat zu
nähren, der sich den Blicken entzieht; so unablässig sind die gleichgiltigsten
Seelen rings um unserWesen herum auf ihrer Hut. Unsere Voreltern haben
uns von diesen Dingen nicht gesprochen, und wir stellen fest, dass das
Leben, in dem wir uns bewegen, grundverschieden von dem ist, das sie
schilderten. Waren sieBetrüger oderUnwissende? DieZeichen undWorte
taugen zu nichts mehr, und fast alles entscheidet sich in den mystischen
Kreisen einer einfachen Gegenwart.
Auch der frühere Wille, der so gut bekannte, so logische Wille von ehedem,
verwandelt sich, was an ihm ist, und unterwirft sich den unmittelbaren
Zusammenhängen grosser und unerklärlich tiefer Gesetze. Es giebt fast
keine Schlupfwinkel mehr, und die Menschen nähern sich einander. Sie
beurteilen sich über Worte und Handlungen, ja, über Gedanken hinweg,
denn was sie sehen, ohne es zu begreifen, liegt hoch über dem Reiche der
Vernunft. Und das ist eins der grossen Anzeichen jener geistigen Perioden,
von denen ich sprach. Man beginnt überall zu fühlen, dass die Beziehungen
** des gewöhnlichen Lebens sich ändern, und die jüngsten unter uns sprechen
 
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