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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0032
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wir dahin, glühend nach Leid zu verlangen, hoffend, darin endlich Wirk-
lichkeit zu hnden und die scharfen Ecken und Kanten der Wahrheit zu
verspüren" ...
Ich habe einmal gesagt, dass die Seelen einander zu nahem scheinen: und
das hat keine andere Bedeutung, als die eines immerwährenden, aber
dunklen Einflusses, den auf Thatsachen zu stützen sehr schwer ist, da
dieThatsachen nur die Vagabunden, Spione oder Nachzügler der grossen
Gewalten sind, die man nicht sieht. Und doch, könnte man sagen, em-
pfinden wir zuweilen, tiefer vielleicht als unsre Väter, dass wir nicht
mit uns allein sind. Die, welche an keinen Gott glauben, so gut wie die
andern, handeln nicht für sich allein, als ob sie sicher wären, allein zu
sein. Es giebtda eine allgemeine Ueberwachung, die wo anders wirkt, als
im nachsichtigen Dunkel jedes menschlichen Bewusstseins. Ist es wahr,
dass die Gefasse des Geistes minder fest verpicht sind als ehemals, und
dass dieWogen des inneren Meeres mächtiger werden? Ich weiss es nicht;
höchstens können wir feststellen, dass wir einer gewissen Anzahl kon-
ventioneller Fehler nicht mehr den gleichen Wert beimessen, — und das
ist schon das Zeichen einer geistigen Eroberung.
Es scheint, dass unsre Moral sich umfbrmt und mit kleinen Schritten
nach höheren Gegenden strebt, die man noch nicht sieht. Und darum ist
vielleicht der Augenblick gekommen, wo man sich neue Fragen zu stellen
hat. Was würde z. B. geschehen, wenn unsre Seele plötzlich sichtbar
würde und mitten unter ihre versammelten Schwestern treten sollte,
ihrer Schleier beraubt, aber beladen mit ihren geheimsten Gedanken und
nach sich ziehend die geheimnisvollsten Vorgänge ihres Lebens, die sich
durch nichts ausdrücken Hessen? Worüber würde sie erröten? Was
wünschte sie zu verbergen? Möchte sie, wie ein schamhaftes Weib, den
langen Mantel ihrer Haare über ihre zahllosen Fleischessünden werfen?
Sie hat sie nicht gesehen und diese Sünden haben sie nie erreicht. Tausend
Meilen von ihrem Throne sind sie begangen worden; und selbst die Seele
des Sodomiten könnte mitten durch die Menge gehen, ohne etwas zu
ahnen, und in ihren Augen läge das durchsichtige Lächeln des Kindes.
Ihr ist nichts dazwischen getreten, sie verfolgte ihren Weg des Lichtes,
und dieses Weges allein wird sie sich entsinnen.
Welche gewöhnlichen Sünden und Verbrechen hat sie begehen können?
Hat sie verraten, getäuscht, gelogen? Hat sie Leiden gemacht und hat sie

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