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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0037
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bar an einer geheimnisvollen Wahrheit teil, die tiefer ist als die materielle
Wahrheit. Wer von uns hat nicht diese Dinge erfahren, die sich in den un-
durchdringlichen Sphären der fast den Sternen angehörenden Menschheit
zutragen? Wenn Ihr einen Brief von einer am grossen Busen des Welt-
meeres verlorenen Insel empfangt, geschrieben von einer Hand, die Euch
unbekannt war, seid Ihr da ganz sicher, dass ein Unbekannter Euch schreibt
und verspürt Ihr nicht beim Lesen — die Götter wissen allein, in welchen
Sphären—über diese Seele Gewissheiten, die untrüglicher und gewichtiger
sind, als alle gewöhnlichen Gewissheiten? Und glaubt Ihr andrerseits nicht,
dass diese Seele, die trotz der Zufälligkeit von Raum und Zeit der Euren
gedachte, nicht auch entsprechende Gewissheiten hatte? Es giebt da von
beiden Seiten seltsame Erkennungen, und wir können unser Dasein nicht
verbergen. Nichts wirft scheinbar auf die zarten Bande, die zwischen allen
Seelen bestehen müssendem eigneres Licht, als diese kleinen Mysterien,
die den Briefaustausch zwischen zwei Unbekannten begleiten. Dies ist
vielleicht eine der schmalen Spalten,—traurig, gewiss, aber es giebt deren
so wenige, dass wir uns mit dem blässesten Schimmer begnügen müssen, -
dies ist vielleicht eine der schmalen Spalten in der Thüre der Finsternis,
durch die wir einen Augenblick ahnen können, was in der Höhle nie
entdeckter Schätze vor sich gehen muss. Man prüfe die empfangenen
Briefschaften eines Menschen, und man wird darin, ich weiss nicht, welche
seltsame Einheit finden. Ich kenne wederdiesen noch jenen, die mich diesen
Morgen befragen, und doch weiss ich bereits, dass ich dem ersten nicht auf
dieselbe Weise werde antworten können, als ich dem zweiten antworten
werde. Ich habe etwas Unsichtbares gesehen. Und was mich betrifft, so
bin ich sicher, dass, wenn jemand, den ich nie bemerkt habe, mir schreibt,
sein Brief nicht genau so ist, als wenn er an meinen Freund geschrieben
hätte, der michin diesem Augenblick ansieht. Es wird immer eine unfassliche
geistige Verschiedenheit da sein. Das ist das Zeichen der Seele, die
unsichtbar eine andre Seele grüsst. Man muss glauben, dass wir uns
in Gegenden kennen, von denen wir nichts wissen, und dass wir eine
gemeinsame Heimat besitzen, wohin wir gehen, wo wir uns wiederfinden,
und von wo wir ohne Mühe zurückfinden.
In dieser gemeinsamen Heimat wählen wir auch unsre Geliebten; darum
täuschen wir uns auch nicht, und unsre Geliebten täuschen sich noch
weniger. Das Reich der Liebe ist vor allem das grosse Reich der Gewiss-

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