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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0047
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gewöhnliche Vorstellung, die man von Mystikern sich macht; und man
vergisst nur allzuoft, dass alle Gewissheit nur in ihnen ist. Im übrigen
müsste man, wenn es wahr ist, dass jedermann in seinen Träumen ein
Shakespeare ist, wie man gesagt hat, sich fragen, ob jedermann in seinem
Leben nicht ein unentwickelter Mystiker und tausendmal transcendentaler
ist, als alle, die sich durch das Wort umzirkelt haben. Welche menschliche
Handlung giebt es, deren letzterBeweggrund nicht mystisch wäre? Ist zum
Beispiel das Auge des Liebenden oder der Mutter nicht tausendfach ver-
worrener, undurchdringlicher und mystischer, als dieses Buch, das nach
allem arm und erklärlich ist, wie alle Bücher, als welche immer nur tote
Mysterien sind, deren Horizont sich nicht mehr erneuert? Wenn man dies
nicht versteht, versteht man vielleicht überhaupt nichts mehr. Aber um auf
unsern Autor zurückzukommen, so werden einige ohne Mühe erkennen,
dass dieser Mönch, weit entfernt, durch Hunger, Einsamkeit und Fieber
zum Narren geworden zu sein, im Gegenteil eins der weisesten, genausten
und zartesten philosophischenOrgane besessen hat, die es je gegeben. Wie
man uns sagt, lebte er in seiner Groendaeler Hütte, mitten im Walde von
Soignes, am Anfang eines der wildesten Jahrhunderte des Mittelalters,
nämlich des vierzehnten. Er konnte kein Griechisch und vielleicht kein
Latein. Er war allein und arm. Und doch empfängt inmitten dieses dunklen
Brabanter Waldes seine unwissende und einfältige Seele unbewusst den
blendenden Widerschein aller einsamen und geheimnisvollen Gipfel des
menschlichen Denkens. Er kennt ohne sein Wissen den Platonismus
Griechenlands, den Sufismus Persiens, den Brahmanismus Indiens und
den Buddhaismus des Tibet; seine wundervolle Unwissenheit findet die
Weisheit begrabener Jahrhunderte wieder und sieht die Wissenschaft von
Zeiten voraus, die noch nicht geboren sind. Ich könnte ganze Seiten aus
Platon, Plotin, Porphyrius, den Zendschriften, den Gnostikern und der
Kabbala zitieren, deren fast göttliches\^sen sich unberührt in den Schriften
des armen vlämischen Priesters wiederfindet. Es giebt dort seltsame Über-
einstimmungen und beunruhigende Gleichklänge. Mehr noch: erscheint
zuweilen ganz bestimmt die Mehrzahl seiner unbekannten Vorgänger
geahnt zu haben; und ebenso, wie Plotin seine erhabene Reise an der
Wegekreuzung beginnt, wo Platon erschrocken angehalten und sich auf
die Kniee geworfen hat, hat Ruysbroeck, wie man sagen könnte, nach
einer Ruhe von mehreren Jahrhunderten nicht sowohl diese Art zu denken
 
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