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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0052
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können! Ich weiss, auf diesen Seiten liegt ein Schatten von Dingen, die
wir uns nicht entsinnen, gesehen zu haben, deren Nutzanwendung der
Mönch zu erklären unterlasst, und die wir nicht erkennen werden, wenn
wir die Gegenstände nicht von der andren Seite des Lebens sehen werden;
inzwischen aber hat uns dies ins Weite blicken lassen und das ist viel. Ich
weiss auch, dass manche seiner Redensarten etwa wie fast durchsichtige
Eisschollen auf dem farblosen Meere des Schweigens schwimmen; aber
sie sind da; sie sind getrennt von den Wassern, und das genügt. Ich weiss
endlich, dass die seltsamen Pflanzen, die er auf den Gipfeln des Geistes
gezogen hat, von besonderen Wolken umgeben sind, aber diese Wolken
ärgern nur die, welche von unten heraufblicken; und hat man erst den
Mut gehabt, hinaufzuklimmen, so gewahrt man, dass eben sie den Dunst-
kreis dieser Pflanzen ausmachen, den einzigen, in dem sie am Rande des
Nichtseins aufblühen konnten. Denn dies ist eine so zarte Vegetation,
dass sie sich kaum von dem Schweigen abhebt, aus dem sie ihre Säfite
geschöpft hat und in dem sie sich aufzulösen neigt. Anders gesprochen, ist
dies Werk wie ein vergrösserndes Glas, das auf Schweigen und Finsternis
gelegt ist; zuweilen unterscheidet man nicht mehr das Ende der Vor-
stellungen, die daran noch teilhaben. Etwas Unsichtbares schimmert
zuweilen durch, und es bedarf augenscheinlich einiger Aufmerksamkeit,
um seine Wiederkehr abzupassen. Dies Buch ist uns nicht zu ferne; wahr-
scheinlich steht es sogar im Mittelpunkte unserer Menschheit; aber wir
sind es, die diesem Buche zu fern sind; und wenn es uns entmutigend deucht
wie die Wüste, wenn die Trostlosigkeit der göttlichen Liebe darinnen
furchtbar und der Durst nach den Gipfeln unerträglich erscheint, so ist
es nicht das Werk, das zu veraltet ist, sondern wir, die vielleicht zu alt,
traurig und mutlos sind, wie Greise bei einem Kinde; und wahrscheinlich
hat ein andrer Mystiker, Plotin, der grosse heidnische Mystiker, Recht
gegen uns, wenn er denen, welche sich beklagen, dass sie nichts auf den
Höhen der inneren Anschauung sehen, wenn er denen sagt: „Man muss
zunächst das Organ der Vision dem zu betrachtenden Objekt entsprechend
anpassen. Nie hätte das Auge die Sonne wahrgenommen, wenn es nicht
zuerst die Form der Sonne erfasst hätte; desgleichen könnte die Seele
nicht die Schönheit sehen, wenn sie nicht zuvörderst selbst schön ward,
und jedermann muss damit beginnen, sich schön und göttlich zu machen,
um den Anblick des Schönen und Göttlichen zu erlangen."

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