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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0054
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dasteht; und dieses Lächeln, das uns im Fluge alles hat erschauen lassen,
was es jenseits des Denkens giebt, ist allein von Wert in den Werken
der Menschen . . .
Sie sind nicht zahlreich, sie, die uns gezeigt haben, dass der Mensch tiefer
und grösser ist als er selbst, und denen es auf diese ^Nbise gelang, einige der
ewigen Anspielungen festzubannen, die uns jeden Augenblick das Leben
bringt, in einer Gebärde, einem Wink, einem Blick, einem Wort, einem
Schweigen und den Ereignissen, welche uns umgeben. Die Wissenschaft
von der menschlichen Grösse ist die seltsamste der Wissenschaften. Kein
Mensch kennt sie nicht, aber fast keiner weiss, dass er sie besitzt. Das
Kind, dem wir begegnen, wird nicht imstande sein, seiner Mutter zu sagen,
was es gesehen hat; und doch weiss es, sobald sein Auge meine Anwesen-
heit bemerkt hat, alles, was ich bin, alles, was ich war, alles, was ich sein
werde, ebensogut wie mein Bruder und dreimal besser, als ich selbst. Es
kennt mich unmittelbar in Vergangenheit und Zukunft, in dieser und den
andern Welten, und seine Augen enthüllen mir wiederum die Rolle, welche
ich im All und in der Ewigkeit spiele. Die unfehlbaren Seelen haben
sich beurteilt; und sobald sein Blick meinen Blick, mein Antlitz, meine
Haltung zugelassen hat, und alles Unendliche, das sie umgiebt und von
dem sie reden, weiss es, woran es sich zu halten hat; und wiewohl es
eine Kaiserkrone noch nicht vom Bettelsack unterscheiden kann, hat es
mich einen Augenblick so genau gekannt wie Gott.
Zwar handeln wir schon wie Götter, und all unser Leben verläuft unter
unendlichen Gewissheiten und Untrüglichkeiten. Aber wir sind Blinde,
die längs der Strassen mit Juwelen spielen; und jener Mensch, der an
meine Thüre klopft, giebt im Augenblicke, wo er mich begrüsst, ebenso
wunderbare geistige Schätze aus, wie der Fürst, den ich dem Tode ent-
rissen hätte. Ich öHne ihm; und im Augenblick sieht er zu seinen Füssen
wie von einem Turm herab alles, was zwischen zwei Seelen stattgefunden
hat. Die Bäuerin, die ich nach dem Wege frage, beurteile ich ebenso tief^
als wenn ich sie nach dem Leben meiner Mutter fragte, und ihre Seele
hat mir ebenso tief gesprochen, wie die meiner Braut. Sie stieg in Hast
bis zu den grössten Mysterien hinauf ehe sie mir Antwort gab; dann sagte
sie mir ruhig, in plötzlichem Bewusstsein dessen, was ich war, ich müsste
zur Linken den Dorfpfad einschlagen. Wenn ich eine Stunde inmitten
einer Menschenmenge verbringe, habe ich, ohne etwas zu sagen und ohne

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