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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0078
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Es ist seltsam genug, sich sagen zu müssen, dass die Epoche, in welcher
die Gottheit ohne Antlitz die furchtbarste und begreiflichste war, die
schönste Epoche der Menschheit gewesen ist, und dass das glücklichste
Volk dem Schicksal sein fürchterlichstes Aussehen gegeben hat.
Wie es scheint, liegt eine geheime Kraft in dieser Vorstellung, oder diese
Vorstellung ist das Anzeichen einer KraR. Wächst der Mensch in dem
Masse, wie er die Grösse des Unbekannten erkennt, das ihn beherrscht;
oder wächst dasUnbekannte im Verhältnis zum Menschen? Heute, könnte
man sagen, — erwacht der Begriff des Schicksals wieder. Vielleicht ist es
nicht unnütz, seinen Spuren nachzugehen. Aber wo findet man es? Den
Spuren des Schicksals nachgehen - heisst das nicht, den Spuren der
menschlichen Trübsal nachgehen? Es giebt kein Schicksal fröhlicher
Art; es giebt keinen glücklichen Stern. Der, welcher so heisst, ist ein
Stern, der sich Zeit nimmt. Es ist übrigens wichtig, dass wir zuweilen
den Spuren unsrer Trübsal nachgehen, um sie kennen zu lernen und zu
bewundern, auch wenn die grosse, unförmige Masse unsres Schicksals
nicht am Ende stünde.
Es ist dies die erfolgreichste Art, auf die Suche nach sich selbst zu gehen,
denn, wie man sagen könnte, sind wir nur so viel wert, als unsre Unruhe
und Schwermut wert sind. In dem Masse, wie wir vorwärts kommen,
werden sie tiefer, edler und schöner, und Mark Aurel ist der bewunderns-
werteste Mensch, weil er besser als ein andrer verstanden hat, was unsre
Seele in das armselige Lächeln der Entsagung legte, das sie in der Tiefe
unsres Wesenszeigen muss. DasgleichegiltvonderTrübsal der Menschheit.
Sie verfolgt einen Weg, der dem unsrer Trübsal entspricht; doch ist er
länger und sicherer und muss zu einer Heimat fuhren, welche die zu-
letzt Geborenen alleine kennen werden. Er geht auch vom körperlichen
Leiden aus; er ist auch durch die Götterfurcht gegangen und endigt heute
an einem neuen Abgrund, dessen Tiefen die Besten unter uns noch nicht
erforscht haben.
Jedesjahrhundert liebt ein andres Leiden, da jedes Jahrhundert ein andres
Schicksal sieht. Es steht fest, dass wir uns heute nicht mehr so sehr
wie ehedem um die Katastrophen der LeidenschaR kümmern; und die
höchst tragischen Meisterwerke der Vergangenheit stehen in der Art ihrer
Trübsal den unsren nach. Sie berühren uns nur noch mittelbar durch
Das, was unser Nachdenken und der neue Adel, den der Schmerz des
 
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