Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0095
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
treffen, wo unsrer Seele die Augen geöffnet sind, wenn uns gerade etwas
ausserordentliches begegnet. Aber in allem, was geschieht, ist Licht; und
die Grössten unter den Menschen waren nur darum gross, weil sie ge-
wohnheitsmassig die Augen jedem Lichte öffneten. Muss denn erst deine
Mutter in deinen Armen verröcheln, dein Kind beim Schiffbruch um-
kommen oder du selbst demTode knapp entgehen, um endlich zu lernen,
dass du in einer unbegreiflichen Welt lebst, in der du dich ein für allemal
befindest, und in der ein Gott, den man nicht sieht, ewig allein mit seinen
Geschöpfen lebt? Muss erst deine Braut in einer Feuerbrunst umkommen,
oder vor deinen Augen in den grünen Tiefen des Weltmeers untergehen,
damit du einen Augenblick einsiehst, dass die letzten Schranken des
Bereichs der Liebe vielleicht gar weit hinausgehen über die fast unsicht-
baren Gluten der Mira oder des Haars der Berenice? Hättest du die
Augen aufgehabt, du hättest bei einem Kuss gewahren können, was dich
heute eine Katastrophe lehren muss. Oder muss der Schmerz erst mit
Lanzenstichen die „göttlichen Erinnerungen" wecken, die in unsrer Seele
schlafen? Der Weise bedarf dieser Erschütterungen nicht. Er betrachtet
eine Thräne, die Gebärde einer Jungfrau oder einen fallenden Wasser-
tropfen; er hört auf einen vorübergehenden Gedanken, drückt die Hand
eines Freundes oder naht einer Lippe mit offnen Augen und ebenso
offner Seele. Da kann er unaufhörlich sehen, was du nur einen Augenblick
erschaut hast; und ohne Mühe lehrt ein Lächeln ihn, was dir ein Sturm
enthüllen musste, oder gar die Hand des Todes. Denn was ist im Grunde
alle sogenannte „Weisheit", „Tugend", „Heroismus", was sind alle „er-
habenen Stunden" und „grossen Momente" des Lebens, wenn nicht
Momente, wo man mehr oder minder aus sich herausgegangen ist und wo
man - wenn auch nur für Eine Minute - auf der Schn eile eines ewigen
Thores hat stehen bleiben können, wo man einsieht, dass der kleinste Ruf^
der bleichste Gedanke und die schwächste Gebärde nicht ins Nichts
zurückfallen, oder besser, wenn sie fallen, dieser Fall selbst so ungeheuer
ist, dass er ausreicht, um unserm Leben einen erhabenen Charakter zu ver-
leihen? Was wartet ihr, dass der Himmel sich beim Krachen des Blitzes
erschlösse? Man muss auf die glücklichen Stunden achtgeben, wo er sich
schweigsam öffnet—und er öffnet sich unablässig. Ihr sucht Gott in Eurem
Leben; aber Gott erscheint Euch nicht, sagt Ihr. Aber welches Leben
hat nicht tausend Stunden, die der Stunde dieses Dramas ähnlich sind, wo
 
Annotationen