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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0104
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Sie haben, ich weiss nicht welche seltsame Furcht vor der Schönheit; und
ie zahlreicher sie sind, desto mehr Furcht haben sie davor, wie sie vor
dem Schweigen oder einer zu reinen Wahrheit Furcht haben. Und das ist
so wahr, dass, wenn es geschähe, dass einer von ihnen am Tage etwas
heldisches gethan hätte, er versuchen würde, es zu entschuldigen, indem
er seiner That elende Beweggründe unterschiebt, Beweggründe, die er der
niedrigen Sphäre entnehmen würde, wo sie beisammen sind. Man höre
indessen zu: Ein hohes und stolzes Wort ist gesprochen worden und hat
gleichsam die Quellen des Lebens aulgedeckt. Eine Seele hat gewagt, sich
Rir einen Augenblick so zu zeigen, wie sie in der Liebe, im Schmerze, vor
dem Tode, oder in der Einsamkeit in Gegenwart der nächtlichen Gestirne
ist. Sogleich giebt es Unruhe, die Gesichter blicken erstaunt oder lächeln.
Aber empfandest du in diesen Augenblicken nicht, mit welch einmütiger
KraR alle Seelen bewundern und auch die schwächste in der Tiefe ihres
Kerkers in unaussprechlicher Weise das Wort billigt, das sie als ihres-
gleichen erkannte. Sie leben plötzlich in ihrer ursprünglichen und ihnen
angemessenen Atmosphäre auf; und wenn du die Ohren von Engeln
hättest, hörtest du, dess bin ich sicher, allmächtigen Beilall im Reiche des
wundervollen Lichtes, wo sie unter sich leben. Glaubt man nicht, dass
wenn ein entsprechendes Wort allabendlich Rele, die furchtsameren Seelen
mehr Mut fassen und die Menschheit wahrhaRiger leben würde? Es braucht
nicht einmal ein entsprechendes Wort wiederzukehren. Etwas tiefes hat
stattgehabt und wird sehr tiefe Spuren zurücklassen. Die Seele, die dieses
Wort ausgesprochen hat, wird von ihren Schwestern jeden Abend wieder
erkannt werden; und ihre blosse Gegenwart wird von nun an in diegleich-
giltigsten Vorschläge etwas erhabenes hineinlegen. Auf alle Fälle hat eine
Verändrung stattgehabt, die man nicht näher bestimmen kann. Die minder-
wertigen Dinge haben nicht mehr die gleiche, ausschliessliche Gewalt, und
die erschrockenen Seelen wissen, dass es irgendwo eine Zuflucht giebt...
Sicherlich sind die natürlichen, ursprünglichen Beziehungen von Seele
zu Seele Beziehungen der Schönheit. Schönheit ist die einzige Sprache
unsrer Seelen. Sie verstehen keine andre. Sie haben kein andres Leben;
sie können nichts andres hervorbringen und an nichts andrem Anteil
nehmen. Und darum zollt jedem Gedanken, jedem Worte, jeder That,
die gross und schön ist, auch die bedrückteste und niedrigste Seele Bei-
Rll, - wenn es erlaubt ist, zu sagen, dass es niedrige Seelen giebt. Sie hat t/O
 
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