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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 30.1987

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Nr.3
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Aufsätze
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Fricek, Alfred: Welche Erkenntnisse kann der Schüler aus Ovids Metamorphose "Orpheus und Eurydike" für sein künftiges Leben gewinnen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.35878#0102

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schreibt, daß Proserpina rapta est — tatsächlich liegt aber — nach den Bestimmungen
des Strafrechts eine ,,Entführung" vor). Gerade deshalb müßte — aus der Sicht des Or-
pheus — auch der Gott der Unterwelt für seinen tiefen Schmerz über den Verlust sei-
ner noch sehr jungen Gattin das notwendige Verständnis aufbringen.
5. Diese Metamorphose zeigt uns die unvergleichliche Wirkung der Musik. Die be-
kannten Büßergestalten der Unterwelt, wie Tantalus, Sisiphus und die Beliden unter-
brechen ihre erfolglose und unerfreuliche Tätigkeit und zeigen sich von den Klängen
der Leier und den Worten des großartigen Sängers Orpheus tief gerührt. Diese Rüh-
rung überträgt sich auch auf die Königin der Unterwelt Proserpina und ihren Gatten
Pluto und beide beschließen, dem Wunsch des Orpheus zu entsprechen, und ihm sei-
ne heißgeliebte Eurydike, für die er keine Mühe gescheut hatte, zurückzugeben.
6. Mitunter ergibt sich während des menschlichen Lebens eine Chance nur einmal.
Bleibt sie ungenützt, kommt sie nie wieder. Es gilt dann der Grundsatz, der bei der Be-
rufung gegen ein gerichtliches Urteil vorherrscht ,,ne bis in idem" (z.B. Berufs-, Part-
nerwahl usw.). Orpheus nützt nicht die ihm von der Unterwelt gewährte Möglichkeit
und erhält diese kein zweites Mal. Er erfüllt nicht die ihm von der Unterwelt auferlegte
Bedingung, sich nicht vor dem Betreten der Oberwelt nach Eurydike umzublicken,
und beraubt sich damit endgültig der Chance, seine jung verstorbene Gattin den Un-
terweltsgöttern zu entreißen.
7. Ovid schreibt sehr anschaulich, daß Orpheus mit Eurydike vor dem tragischen Vor-
fall nicht mehr weit vom Rand der Oberwelt entfernt war (Vgl. V35 nec procul afuerunt
teliuris margine summae). Es ist in diesem Zusammenhang sehr interessant, daß die
Nationalökomonie den Begriff ,,Marginalgewinn" kennt. Dieser Terminus zeigt sehr
anschaulich, daß ein Unternehmen richtig ,,abstürzt", wenn selbst dieser geringste
Gewinn nicht erzielt wird. Auch Eurydike sinkt, weil sich ihr Gatte vorzeitig nach ihr
umgeblickt hat, steil in die Tiefe.
8. Man muß immer beachten, aus welchem Grund jemand versagt hat. Eurydike er-
kennt, daß Orpheus auf Grund seiner allzu großen Liebe die nur einmal von der Un-
terwelt gebotene Chance nicht genützt hat und unterläßt es daher, über ihr widriges
Schicksal zu klagen.
9. Diese sehr lehrreiche Metamorphose zeigt uns, daß sehr oft der Mensch in der Lage
sein muß, seinen Erfolg abzuwarten. Eine gewisse Ungeduld kann diesen im letzten
Augenblick vereiteln.
10. Man darf bei Erfolglosigkeit die Schuld nicht allein bei den anderen suchen. Or-
pheus klagt darüber, daß die Götter der Unterwelt grausam seien (vgl. V76 esse deos Er-
ebi crudeles questus), ohne einzugestehen, daß er aus eigenem Verschulden seine
Chance nicht genützt hat.
Literatur
1 E. Römisch, Metamorphosen Ovids im Unterricht, Heidelberger Texte 1976, Didaktische Rei-
he / 9, S. 45 ff.
2 F. Maier, Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bamberg 1985, Bd. 3, S. 166 ff.
PROF. DR. ALFRED FRicEK, Wurlitzerg. 74/11/1,1160 Wien

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