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die Geschichte von Schelling auch ganz im Sinne Kants als
moralisches Reich bezeichnet ]).
Die Geschichte ist die ideale Einheit gegenüber der
realen Einheit der Natur, das Reich der Wertrealisierung
oder Offenbarung, wobei Schelling das Gebiet der Geschichte
auf die Verwirklichung des religiösen, sittlichen und recht-
lichen Wertes zunächst beschränken möchte. In dem Ganzen
des historischen Prozesses bedeutet das Christentum im Gegen-
satz zum Griechentum das historische Prinzip. Christentum
ist Geschichte, weil es das Spirituelle im Gegensatz zum
Natürlichen und Sinnlichen ist, weil die Gottheit im Christen-
tum aufgehört hat, sich in der Natur zu offenbaren und nur
noch in der Geschichte erkennbar ist 2). Christentum ist Ge-
schichte, weil sein höchstes Prinzip das Unendliche ist im
Gegensatz zum Endlichen, das Schrankenlose im Gegensatz
zum Begrenzten. Christentum ist Geschichte, weil es Handeln
und Herstellung einer völligen Einheit bedeutet, weil sein
Denken von der Kategorie des Werdens beherrscht zu sein
scheint, wie das antike von der Kategorie des Seins, weil
es den Gedanken der Offenbarung vertritt, der nur in einem
historischen Ganzen realisiert werden kann. Christentum ist
Geschichte, weil in ihm die grosse Antinomie des Bewusst-
seins, der Gegensatz von Sein und Sollen zur völligen Klar-
heit herausgearbeitet ist, die grosse Antinomie, die den
historischen Prozess beherrscht und deren Bewusstsein aller
modernen Dichtung den Charakter des Geteiltseins und des
Sentimentalen aufdrückt, als Ausdruck der Sehnsucht nach
einer verlorenen Einheit. Endlich begründet das Christentum
das Reich der Freiheit in der Geschichte, es ist seinem
innersten Geiste nach im höchsten Masse historisch 3). Damit
hat Schelling als erster den grundlegenden Unterschied zwi-
schen griechischer und christlicher Weltanschauung zum
klaren Ausdruck gebracht. Während das Christentum die
Idee einer einmalig fortschreitenden Entwickelung vertritt
und auf den Fortgang des Menschengeschlechtes in seiner
Ganzheit blickt, indem es Menschentum als Einheit begreift
und den Sinn des historischen Prozesses in der Erlösung von
einer gemeinsamen Schuld erkennt, sieht das Griechentum in
dem Fluss der Erscheinungen nur den ewigen Rhythmus des
Geschehens, nicht geradlinig, sondern kreisförmig, eine gleich-
mässige, gesetzlich geregelte Wiederkehr derselben Phänomene.
Damit hängt dann im Christentum die höhere Bewertung
des Handelns, der Tätigkeit, des Geschehens, die Ausbildung
des Persönlichkeitsbegriffes, der notwendige Uebergang zum

1) a. a. 0. S. 287.

2) a. a. 0. S. 289.

3) a. a. 0. S. 288 und 453—55.
 
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