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- 101 —

ursprünglichen wertvollen Seins und wertvoll auch nicht zur
Erreichung eines noch so fernen Zieles. Dann ist das Ge-
schehen selber wertvoll, insofern es Werte verwirklicht, un-
abhängig davon, ob es sich jemals vollendet. Wir kommen
zu dem Begriff einer Wertkette, die ohne Anfang und Ende
sich durch das Geschehen dahinzieht, und der Fortschritts-
gedanke wird zum Ausdruck für diese Werteinmaligkeit des
historischen Prozesses.
Schelling behauptet im System des transzendentalen
Idealismus, dass im Begriff der Geschichte ein unendlicher
Fortschritt liege1). Geschichte ist nach seiner Definition nur
da möglich, wo ein Ideal, das nie ganz verloren geht, unter
unendlich vielen Abweichungen so realisiert wird, dass zwar
nicht das Einzelne, wohl aber das Ganze mit ihm kongruiert 2).
Nicht das Individuum kann dem Ideal genügen, sondern nur
die Gattung, die ihrer Natur nach ewig ist3). Die Ueber-
lieferung von Geschlecht zu Geschlecht, welche dahin führt,
dass in dem endlosen Fluss der Erscheinungen immer neue
Individuen an die Stelle der alten treten, um das begonnene
Werk fortzusetzen, ist der symbolische Ausdruck ihres ewigen
Lebens. Die Verwirklichung des Ideals aber duldet keine
Wiederholung, sondern verlangt, dass die Handlungen der
Geschichte etwas Neues hinzubringen 4).
Das Ziel der Entwickelung und zugleich der Wertmasstab
zur Beurteilung des Fortschritts ist für Schelling im System
des transzendentalen Idealismus ganz im Sinne Kants die welt-
bürgerliche Verfassung. Nur auf dem Gebiet der politischen
Geschichte lässt sich Fortschritt konstatieren, die moralische
Entwickelung entzieht sich jeglicher Beurteilung5). Fortschritt
in Wissenschaften und Künsten findet wohl statt, ist aber
nicht mit dem Fortschreiten zu einer bürgerlichen Verfassung
in Einklang zu bringen. Diese Idee, welche den Begriff der
Geschichte konstituiert, enthält kein Kriterium zu einer po-
sitiven Bewertung der wissenschaftlichen und künstlerischen
Entwickelung, die daher aus dem Gebiet der Geschichte im
engeren Sinne herausfällt.
Die unendliche Perfektibilität der Gattung, wie sie von
Rousseau behauptet war, wird von Schelling abgelehnt. Dieser
extreme Fortschrittsgedanke ist ebensowenig zu rechtfertigen
wie die Behauptung, dass der Mensch überhaupt keine Ge-
schichte habe, sondern vielmehr auf einen ewigen Zirkel von
Handlungen eingeschlossen sei.

1) Schelling, Werke I, Bd. III, S. 592.

2) a. a. 0. S. 588.

3) a. a. 0. Bd. V, S. 224.

4) a. a. 0. Bd. III, S. 589.

5) a. a. 0. S, 592.
 
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