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gegenbringt, erwecken von vornherein den Eindruck, dass
Schelling der Idee des Fortschritts sehr problematisch gegen-
übersteht. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die weh-
mütige Resignation, mit der Schelling den Abfall der Mensch-
heit von der Natur betrachtet. Dieser Abfall nimmt in der
Geschichtsphilosophie Schellings verschiedene Formen an,
welche man als die metaphysische, die prähistorische und die
historische bezeichnen kann und von denen die zweite und
dritte manchmal in einander überzufliessen scheinen. Die
metaphysische Form ist der Abfall des Gegenbildes, der
eine Scheinwirklichkeit setzte und die reine Schönheit der
Ideenwelt trübte, die prähistorische Form ist der Abfall des
Normalvolkes von seinem ideellen Naturzustand, welcher die
ursprüngliche Kultur, in welcher die Wertgebiete ineinander
verschmolzen waren, differenzierte und ihre Einheit zerstörte,
die historische Form des Abfalls endlich ist der Untergang
des Griechentums, der das Aufgeben der realen Einheit be-
deutet. Der Abfall wird von Schelling in dieser ganzen
Epoche weniger als eine ethische Schuld, sondern vielmehr
als ein tragisches Verhängnis betrachtet. Die ursprüngliche
Schönheit der Ideenwelt, des paradisischen Naturzustandes
und des Griechentums ist durch den Abfall getrübt, und der
ganze historische Prozess kann lediglich den Sinn haben,
diese Schönheit, die verloren gegangen ist, wieder herzu-
stellen. Je mehr sich dann in der Folgezeit die Wendung
zum Religiösen vollzieht, gilt Schelling der Abfall nicht als
eine ästhetische Schuld, sondern als eine ethisch-religiöse.
Schellings Schrift „Philosophie und Religion" steht auf der
Grenze der ästhetischen und der religiösen Weltanschauung.
Der Abfall ist eine Bewegung, welche die Menschheit
vom Göttlichen entfernt, sie ist zentrifugal gerichtet und
symbolisiert die reale extensive Urtätigkeit Schellings. In
dem Ganzen des göttlichen Weltgedichts ist diese zentri-
fugale Bewegung die Ilias des Geistes. Unauflöslich ist
mit ihr eine zentripetale Bewegung verbunden, die mehr und
mehr das Uebergewicht erhält und die Welt zu Gott zuriick-
führt. Sie ist von vorn herein wirksam, gelangt aber zum
vollen Ausdruck erst in der Entfaltung des Christentums.
Diese zentripetale Bewegung entspricht der ideellen inten-
siven Urtätigkeit, welche die reale begrenzt, und wird von
Schelling die Odyssee des göttlichen Weltgedichtes genannt.
Schon im „System des transzendentalen Idealismus" hören
wir von der Odyssee des Geistes, die ihrem innersten Wesen
nach mit dem Prinzip der Natur übereinstimmt, das von
Schelling später als die Ilias des Geistes bezeichnet wird1).
1) a. a. 0. Bd, III, S. 628.
gegenbringt, erwecken von vornherein den Eindruck, dass
Schelling der Idee des Fortschritts sehr problematisch gegen-
übersteht. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die weh-
mütige Resignation, mit der Schelling den Abfall der Mensch-
heit von der Natur betrachtet. Dieser Abfall nimmt in der
Geschichtsphilosophie Schellings verschiedene Formen an,
welche man als die metaphysische, die prähistorische und die
historische bezeichnen kann und von denen die zweite und
dritte manchmal in einander überzufliessen scheinen. Die
metaphysische Form ist der Abfall des Gegenbildes, der
eine Scheinwirklichkeit setzte und die reine Schönheit der
Ideenwelt trübte, die prähistorische Form ist der Abfall des
Normalvolkes von seinem ideellen Naturzustand, welcher die
ursprüngliche Kultur, in welcher die Wertgebiete ineinander
verschmolzen waren, differenzierte und ihre Einheit zerstörte,
die historische Form des Abfalls endlich ist der Untergang
des Griechentums, der das Aufgeben der realen Einheit be-
deutet. Der Abfall wird von Schelling in dieser ganzen
Epoche weniger als eine ethische Schuld, sondern vielmehr
als ein tragisches Verhängnis betrachtet. Die ursprüngliche
Schönheit der Ideenwelt, des paradisischen Naturzustandes
und des Griechentums ist durch den Abfall getrübt, und der
ganze historische Prozess kann lediglich den Sinn haben,
diese Schönheit, die verloren gegangen ist, wieder herzu-
stellen. Je mehr sich dann in der Folgezeit die Wendung
zum Religiösen vollzieht, gilt Schelling der Abfall nicht als
eine ästhetische Schuld, sondern als eine ethisch-religiöse.
Schellings Schrift „Philosophie und Religion" steht auf der
Grenze der ästhetischen und der religiösen Weltanschauung.
Der Abfall ist eine Bewegung, welche die Menschheit
vom Göttlichen entfernt, sie ist zentrifugal gerichtet und
symbolisiert die reale extensive Urtätigkeit Schellings. In
dem Ganzen des göttlichen Weltgedichts ist diese zentri-
fugale Bewegung die Ilias des Geistes. Unauflöslich ist
mit ihr eine zentripetale Bewegung verbunden, die mehr und
mehr das Uebergewicht erhält und die Welt zu Gott zuriick-
führt. Sie ist von vorn herein wirksam, gelangt aber zum
vollen Ausdruck erst in der Entfaltung des Christentums.
Diese zentripetale Bewegung entspricht der ideellen inten-
siven Urtätigkeit, welche die reale begrenzt, und wird von
Schelling die Odyssee des göttlichen Weltgedichtes genannt.
Schon im „System des transzendentalen Idealismus" hören
wir von der Odyssee des Geistes, die ihrem innersten Wesen
nach mit dem Prinzip der Natur übereinstimmt, das von
Schelling später als die Ilias des Geistes bezeichnet wird1).
1) a. a. 0. Bd, III, S. 628.