Man kann dieses Geständnis zwischen den Zeilen eines Auf-
satzes lesen, den er vor zehn Jahren für die neue französische Ausgabe
des Cennino Cennini von Victor Mottez geschrieben hat*). Es steht
ihm nicht schlecht, diesem alten Traktat der Kunst als Vorredner
zu dienen. Er schreibt bewundernd von den „Chefs-d’oeuvre
corporatifs“ der Alten, die eindringlicher für die Größe einer
Epoche zeugten als die Werke ihrer Genies, die ja doch immer
über ihre Zeit hinauswachsen, und sieht in dem Aussterben des
Handwerks ein bedenkliches Symptom. Der Kunst drohe Ver-
derben, seitdem sie kein Handwerk sei wie Schlossern und Tisch-
lern, das von dem Meister gelehrt, von dem Jungen gelernt wurde
und von einer Generation auf die andere überging; seitdem keine
Gemeinschaft mehr unter den Schaffenden sei, kein starker
Glaube Künstler und Laien verknüpfe, seitdem der Eigennutz der
Persönlichkeit das allen geläufige Ideal verdrängt habe. Er klagt
nicht, er hat nicht einmal Sehnsucht nach jenen alten Zeiten und
verschweigt kaum, wie skeptisch er alle Reorganisationsversuche
einschätzt. Er denkt nicht, man könne mit Traktaten von Cennino
Cennini die Zeiten des Fresko zurückgewinnen. Es gab vielleicht
dreißig Jahre vorher einen weniger gelassenen Renoir, einen
Stürmer und Dränger, der bitter klagte und sich sehnte und nahe
daran war, den alten Ingres-Schüler Mottez um seinen Cennini
und die Fresken in St. Germain-l’Auxerrois zu beneiden.
Dem Alten fehlte der Grund zur Klage. Bis ins letzte Jahr ver-
ging kein Tag, an dem er nicht den Pinsel in die gichtbrüchigen
Finger nahm, und nie geschah es vergebens**). Durch alle Wirrnisse
der Zeit hindurch drang er zum Heil. Die Wärme seiner Hingabe,
die Kraft seines Intellekts ersetzte, was ihm die Zunft versagte.
Er wurde zum Wisser aller Geheimnisse der Kunst und hat sie in
strahlenden Zeichen niedergelegt, für jeden Suchenden verständlich.
*) Die schöne Vorrede — ein seltenes Glaubensbekenntnis für einen Im-
pressionisten — ist in Form eines Briefes an Herrn Henry Mottez, den Sohn des
Übersetzers, des bekannten Ingres-Schülers, gehalten. Herr Henry Mottez hat
die neue, wesentlich ergänzte Ausgabe des Cennini veranstaltet, an der auch
Maurice Denis beteiligt ist. Die Vorrede erschien zuerst in der Zeitschrift
L’Occident (No. 103 Jahrgang 1910). In dem Verlage der Zeitschrift ist soeben
auch das Buch erschienen.
**) Vgl. das vor kurzem erschienene illustrierte Buch von Andre über
Renoir, das nur Werke aus den letzten Kriegsjahren enthält.
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satzes lesen, den er vor zehn Jahren für die neue französische Ausgabe
des Cennino Cennini von Victor Mottez geschrieben hat*). Es steht
ihm nicht schlecht, diesem alten Traktat der Kunst als Vorredner
zu dienen. Er schreibt bewundernd von den „Chefs-d’oeuvre
corporatifs“ der Alten, die eindringlicher für die Größe einer
Epoche zeugten als die Werke ihrer Genies, die ja doch immer
über ihre Zeit hinauswachsen, und sieht in dem Aussterben des
Handwerks ein bedenkliches Symptom. Der Kunst drohe Ver-
derben, seitdem sie kein Handwerk sei wie Schlossern und Tisch-
lern, das von dem Meister gelehrt, von dem Jungen gelernt wurde
und von einer Generation auf die andere überging; seitdem keine
Gemeinschaft mehr unter den Schaffenden sei, kein starker
Glaube Künstler und Laien verknüpfe, seitdem der Eigennutz der
Persönlichkeit das allen geläufige Ideal verdrängt habe. Er klagt
nicht, er hat nicht einmal Sehnsucht nach jenen alten Zeiten und
verschweigt kaum, wie skeptisch er alle Reorganisationsversuche
einschätzt. Er denkt nicht, man könne mit Traktaten von Cennino
Cennini die Zeiten des Fresko zurückgewinnen. Es gab vielleicht
dreißig Jahre vorher einen weniger gelassenen Renoir, einen
Stürmer und Dränger, der bitter klagte und sich sehnte und nahe
daran war, den alten Ingres-Schüler Mottez um seinen Cennini
und die Fresken in St. Germain-l’Auxerrois zu beneiden.
Dem Alten fehlte der Grund zur Klage. Bis ins letzte Jahr ver-
ging kein Tag, an dem er nicht den Pinsel in die gichtbrüchigen
Finger nahm, und nie geschah es vergebens**). Durch alle Wirrnisse
der Zeit hindurch drang er zum Heil. Die Wärme seiner Hingabe,
die Kraft seines Intellekts ersetzte, was ihm die Zunft versagte.
Er wurde zum Wisser aller Geheimnisse der Kunst und hat sie in
strahlenden Zeichen niedergelegt, für jeden Suchenden verständlich.
*) Die schöne Vorrede — ein seltenes Glaubensbekenntnis für einen Im-
pressionisten — ist in Form eines Briefes an Herrn Henry Mottez, den Sohn des
Übersetzers, des bekannten Ingres-Schülers, gehalten. Herr Henry Mottez hat
die neue, wesentlich ergänzte Ausgabe des Cennini veranstaltet, an der auch
Maurice Denis beteiligt ist. Die Vorrede erschien zuerst in der Zeitschrift
L’Occident (No. 103 Jahrgang 1910). In dem Verlage der Zeitschrift ist soeben
auch das Buch erschienen.
**) Vgl. das vor kurzem erschienene illustrierte Buch von Andre über
Renoir, das nur Werke aus den letzten Kriegsjahren enthält.
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