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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0069
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sichtbar machen. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: wie notwendig es für den Schüler ist, den Flügel
an seinem Gerippe zu studieren, um seine Erscheinung auch in einer ganz abgezogenen ornamentalen
Form richtig darzustellen und wie wenig er dies bloss nach einer stilisierten Vorlage vermag, wird jeder
Lehrer erfahren haben. Lässt der Vergleich mit der Natur den Wert des stilistischen Vorbildes erst
schätzen, so ist aus diesem auch erst die nützliche Anregung zu gewinnen, wenn dem Schüler die
Struktur des natürlichen Flügels selbst vorliegt. Wenn in der Werkstatt oder im Klassenraume die
vornehmlichsten Typen von Flügeln, z. B. des Raubvogels, der Taube, des Schwanes, der Eule einmal
im Gerippe, mit den Ansätzen der Hauptfedern und in ihrer vollständigen Befiederung vorhanden sind
und wenn der Schüler diese so leicht zu beschaffenden Vorbilder immer vor Augen hat, so werden seine
Flügelkompositionen bald ein anderes Ansehen gewinnen, als wenn er nach Gipsabgüssen stilisierter
Formen und photographischen Nachbildungen arbeitet. Dasselbe ist der Fall mit allen anderen in der
Kunst beständig wiederkehrenden Extremitäten. Soll sich der Schüler von Fall zu Fall die einzelnen
Vorbilder immer erst besorgen, so kommt er selten dazu, sie wirklich anzuwenden; sind sie ihm allzeit
zugänglich, so wird er sich überhaupt bald gewöhnen, nie ohne die Beihilfe der Natur zu bilden. So
naheliegend und selbstverständlich diese Beobachtung ist, so beweist der Mangel der Naturformen an
vielen Schulen, dass ihre Äusserung durchaus nicht überflüssig ist; der Lehrer mag den Schüler noch
so sehr auf die Naturbenutzung aufmerksam machen, sobald die betreffenden Originale aber nicht
in der Klasse oder dem Studio des Lehrers zu sehen sind, so wird das nur wenig wirken.
An manchen Schulen sind allerdings schon Tierformsammlungen vorhanden und bedürften sie
nur noch einer Ergänzung und bewussterer Zuspitzung für ihren ornamentalen Zweck, dagegen fehlt es
an den meisten an einem rationell zusammengestellten, dauerhaften und jederzeit verwendbaren pflanz-
lichen Unterrichtsmateriale, da die für das bisher nur übliche naturalistische Zeichnen und Malen der
Pflanze notwendigen Vorbilder für die betreffenden Klassen meist nur von Fall zu Fall in Blumentöpfen
und abgeschnittenen Exemplaren aus Gärtnereien bezogen werden. Da es aber geboten ist, auch die
pflanzlichen Formen an den Originalen selbst kennen zu lernen, so wird es für alle technischen Kunst-
schulen notwendig werden, nicht nur durch jeweilige Beschaffung, sondern durch dauernde Ein-
richtungen: Topfsammlungen, kleine Gärten oder Kalthäuser für dieses Bedürfnis zu sorgen.
Die besten Beobachtungen sind jedenfalls an der lebenden Pflanze zu machen, da ihre Organe
durch das Abschneiden und den Transport erschlaffen und ihrer natürlichen Frische mehr oder minder
beraubt werden. Wenn sich auch durch manche Mittel (wie z. B. durch Hinzufügung gewisser Salze
zum Wasser, durch Abschneiden eines Stengelstückes unter dem Wasser u. s. w.) das Leben der abge-
schnittenen Pflanze verlängern lässt (ältere Akanthusblätter bleiben z. B. bei vorsichtiger Behandlung
bis zu einem Monat unverändert), so leiden zartere Formen durch die Trennung von ihrer natürlichen
Lebensquelle doch ausserordentlich. Ist somit der Nerv und die Elastizität der Pflanzenform am Stocke
selbst am besten zu studieren, so bringt auch dies wieder gewisse Nachteile mit sich. Durch das Weiter-
wachsen und die mannigfaltigenLebenserscheinungen der Pflanze ergeben sich fortdauernde Änderungen
nicht bloss der Lage ihrer Organe, sondern ihrer Formen selbst, welche namentlich dem Studium des
Anfängers Schwierigkeiten bereiten; ferner stört der Zusammenhang der zu studierenden Einzelform
mit der ganzen Pflanze ihre Beobachtung, die verschiedenen Organe decken sich gegenseitig, die
gewünschte Projektionsansicht ist infolgedessen nicht möglich; manche Formen sind überhaupt erst
durch ihre Loslösung, aus ihren Schnitten zu erkennen u. s. w.

Die pflanzlichen
Vorbilder :

Die lebende
Pflanze.

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