Apelles.
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strakten begrifflichen Denken verdankt. Die
Darstellungen der Gewittererscheinungen mögen
allerdings in ihrer künstlerischen Gestaltung
sich an manche aus unmittelbarer Anschauung
der Natur herausgeschaffene Wesen oder Perso-
nifikationen, wie die Dämonen des Meeres, die
Windgötter u. a. angeschlossen haben, aber
schon in der Benennung der drei Gestalten be-
gegnen wir wieder einer Scheidung nach be-
stimmten Begriffen.
Auf diese den Künstler durchaus beherrschende
Geistesrichtung muss mit allem Nachdruck bei
der Beurtheilung eines Werkes hingewiesen
werden, welches man dein Künstler entweder
gänzlich hat absprechen oder höchstens als eine
Verirrung seines Greisenalters hat gelten lassen
wollen : das Bild der Verläumdung. Wir mögen
berechtigt sein, die Allegorie im Prinzipe zu
verwerfen; aber wir dürfen darum den ein-
zelnen Künstler und das einzelne Werk nicht
für die gesammten Sünden des Prinzips verant-
wortlich machen. Das Bild der Verleumdung
ist allerdings eine Allegorie, aber als solche darf
es nicht als »monströs«, als »eine Grauen erre-
gende Erfindung, eine Verirrung der Phantasie«
bezeichnet werden, sondern verdient innerhalb
der Grenzen des Prinzips eher Anerkennung als
Tadel. Die Gefahr, welche eine vereinzelte alle-
gorische Figur wie etwa der Kairos des Lysipp
darbietet, ist hier wenigstens zum Theil dadurch
vermieden, dass der Gedanke in einer Reihe von
Figuren entwickelt ist, welche sich in bestimm-
ten Gegensätzen von einander abheben und
ausserdem durch eine, wenn auch noch so
schwache Handlung, das Heranschleppen des
unschuldigen Jünglings, unter einander ver-
bunden sind. Die Komposition zeigt uns also
nur die weitere Entwickelung derjenigen Auf-
fassung, welcher wir bereits am Kasten des
Kypselos (Paus. v. 18, 1) in der Gruppe der
Dike und Adikia in der Nekyia des Polygnot
(Paus. x. 28) in den Gruppen des Vatermörders
und Tempclräubers, wie in der des Oknos und
der Uneingeweihten begegnen (vgl. Memor. dell’
Inst. arch. n. 383). In der Durchbildung der
einzelnen Gestalten mochte vielfach die Tragö-
die vorangegangen sein: die Hauptfigur der
Diabole erinnert an Lyssa und Oistros; Apate
und Phthonos finden wir unter den tragischen
Masken bei Pollux iv. 142, wie auf unteritali-
schen Vasenbildern. Ausserdem aber dürfen
wir nicht vergessen, wie auch in der Literatur
durch Aristoteles, Theophrast u. a. die ab-
strakte philosophische Schilderung und Zerglie-
derung von moralischen Charakteren sich der
Auffassung des Apelles durchaus parallel ent-
wickelte, und wie auch die neuere Komödie
Charaktere von allgemein typischer Geltung
auszubilden bestrebt war. Das Bild des Apelles
ist also durchaus charakteristisch für die ganze
Zeit, und der Künstler erweist sich durch das-
selbe als ein Kind eben dieser Zeit. Noch han-
Meyer, Künstler-Lexikon. II.
delt es sich bei ihm nicht um eigentliche Genre-
malerei ; sondern seine Gestalten gehören noch
durchaus dem Gebiete an, welches die Griechen
als Megalographie bezeichnen. Aber es fängt
die freie, rein aus der Idee schaffende poetische
Kraft zu mangeln an, und an die Stelle eigent-
licher Idealgestalten treten »Charaktere«, nicht
Individualitäten, sondern Gestalten als Träger
gewisser, bestimmt begrenzter Eigenschaften.
Die Verleumdung in ihren Ursachen und ihren
Folgen wird durch reflektirendes, abstrakt phi-
losophisches Denken in eine Reihe von einzel-
nen Eigenschaften und Begriffen zerlegt und ein
jeder derselben wird durch eine besondere Ge-
stalt sinnlich veranschaulicht. Noch aber ge-
schieht dies nicht durch äusserliche, häufig nur
im metaphorischen Sinne angewendete Attribute,
sondern der Begriff findet seinen Ausdruck in
der Charakteristik des geistigen Wesens der
Figuren selbst: die Verleumdung ist erhitzt und
von Zorn erregt, der Neid blass und abgezehrt,
die Reue traurig und verschämt. So haben wir
es also hier, wenn auch das ganze Bild einen
durchaus allegorischen Charakter trägt, doch im
Einzelnen kaum mit eigentlich allegorischen Ge-
stalten, sondern mit Personifikationen ethischer
Begriffe und psychologischer Affekte zu thun.
Es ist gewiss unrichtig, wenn man das Her-
vortreten dieser symbolisch-allegorischen Rich-
tung bei Apelles auf einen Einfluss der Schule
von Sikyon hat zurückführen und überhaupt sein
Verhältniss zu derselben so hat darstellen wol-
len, als ob der »idealistische Grundzug« seiner
»durch und durch ionischen Natur« durch die
»realistische Richtung der dorischen Kunst Si-
kyon’s« im innersten Grunde eigentlich mehr
Einbusse erlitten als Förderung erfahren habe.
Schon der Umstand, dass er dort nicht seine
erste Bildung erhielt, sondern dass er mit ge-
reiftem Bewusstsein zur Vollendung und Abrun-
dung seiner Studien Sikyon aufsuchte, hätte
von einer solchen Auffassung abmahnen sollen.
Die Klarheit, mit welcher er auf der Höhe seines
Ruhmes bei allem berechtigten Selbstgefühl
doch auch die Grenzen seines Verdienstes anzu-
erkennen wusste, scheint ihm auch schon in
jüngeren Jahren eigen gewesen zu sein. Er mag
gefühlt haben, dass die ihm von der Natur ver-
liehenen Gaben der strengen und systematischen
Durchbildung bedurften, wie sie gerade und
eben nur die sikyonisohe Schule darzubieten ver-
mochte. Und in dieser Richtung hat sie ihm ge-
leistet, was er erwartet, während auf denjenigen
Gebieten, auf welchen ihn die Natur weniger
freigebig bedacht, auch sie nicht so viel ver-
mochte, dass sie ihn über andere erhoben hätte,
wenn sie auch manche Mängel verringert und ab-
geschwächt haben wird.
Diese Gebiete bezeichnet Apelles selbst, in-
dem er dem Melanthios de dispositione, dem
Asklepiodor de mensuris oder, wie es in einer
zweiten Erwähnung heisst: in symmetria den
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strakten begrifflichen Denken verdankt. Die
Darstellungen der Gewittererscheinungen mögen
allerdings in ihrer künstlerischen Gestaltung
sich an manche aus unmittelbarer Anschauung
der Natur herausgeschaffene Wesen oder Perso-
nifikationen, wie die Dämonen des Meeres, die
Windgötter u. a. angeschlossen haben, aber
schon in der Benennung der drei Gestalten be-
gegnen wir wieder einer Scheidung nach be-
stimmten Begriffen.
Auf diese den Künstler durchaus beherrschende
Geistesrichtung muss mit allem Nachdruck bei
der Beurtheilung eines Werkes hingewiesen
werden, welches man dein Künstler entweder
gänzlich hat absprechen oder höchstens als eine
Verirrung seines Greisenalters hat gelten lassen
wollen : das Bild der Verläumdung. Wir mögen
berechtigt sein, die Allegorie im Prinzipe zu
verwerfen; aber wir dürfen darum den ein-
zelnen Künstler und das einzelne Werk nicht
für die gesammten Sünden des Prinzips verant-
wortlich machen. Das Bild der Verleumdung
ist allerdings eine Allegorie, aber als solche darf
es nicht als »monströs«, als »eine Grauen erre-
gende Erfindung, eine Verirrung der Phantasie«
bezeichnet werden, sondern verdient innerhalb
der Grenzen des Prinzips eher Anerkennung als
Tadel. Die Gefahr, welche eine vereinzelte alle-
gorische Figur wie etwa der Kairos des Lysipp
darbietet, ist hier wenigstens zum Theil dadurch
vermieden, dass der Gedanke in einer Reihe von
Figuren entwickelt ist, welche sich in bestimm-
ten Gegensätzen von einander abheben und
ausserdem durch eine, wenn auch noch so
schwache Handlung, das Heranschleppen des
unschuldigen Jünglings, unter einander ver-
bunden sind. Die Komposition zeigt uns also
nur die weitere Entwickelung derjenigen Auf-
fassung, welcher wir bereits am Kasten des
Kypselos (Paus. v. 18, 1) in der Gruppe der
Dike und Adikia in der Nekyia des Polygnot
(Paus. x. 28) in den Gruppen des Vatermörders
und Tempclräubers, wie in der des Oknos und
der Uneingeweihten begegnen (vgl. Memor. dell’
Inst. arch. n. 383). In der Durchbildung der
einzelnen Gestalten mochte vielfach die Tragö-
die vorangegangen sein: die Hauptfigur der
Diabole erinnert an Lyssa und Oistros; Apate
und Phthonos finden wir unter den tragischen
Masken bei Pollux iv. 142, wie auf unteritali-
schen Vasenbildern. Ausserdem aber dürfen
wir nicht vergessen, wie auch in der Literatur
durch Aristoteles, Theophrast u. a. die ab-
strakte philosophische Schilderung und Zerglie-
derung von moralischen Charakteren sich der
Auffassung des Apelles durchaus parallel ent-
wickelte, und wie auch die neuere Komödie
Charaktere von allgemein typischer Geltung
auszubilden bestrebt war. Das Bild des Apelles
ist also durchaus charakteristisch für die ganze
Zeit, und der Künstler erweist sich durch das-
selbe als ein Kind eben dieser Zeit. Noch han-
Meyer, Künstler-Lexikon. II.
delt es sich bei ihm nicht um eigentliche Genre-
malerei ; sondern seine Gestalten gehören noch
durchaus dem Gebiete an, welches die Griechen
als Megalographie bezeichnen. Aber es fängt
die freie, rein aus der Idee schaffende poetische
Kraft zu mangeln an, und an die Stelle eigent-
licher Idealgestalten treten »Charaktere«, nicht
Individualitäten, sondern Gestalten als Träger
gewisser, bestimmt begrenzter Eigenschaften.
Die Verleumdung in ihren Ursachen und ihren
Folgen wird durch reflektirendes, abstrakt phi-
losophisches Denken in eine Reihe von einzel-
nen Eigenschaften und Begriffen zerlegt und ein
jeder derselben wird durch eine besondere Ge-
stalt sinnlich veranschaulicht. Noch aber ge-
schieht dies nicht durch äusserliche, häufig nur
im metaphorischen Sinne angewendete Attribute,
sondern der Begriff findet seinen Ausdruck in
der Charakteristik des geistigen Wesens der
Figuren selbst: die Verleumdung ist erhitzt und
von Zorn erregt, der Neid blass und abgezehrt,
die Reue traurig und verschämt. So haben wir
es also hier, wenn auch das ganze Bild einen
durchaus allegorischen Charakter trägt, doch im
Einzelnen kaum mit eigentlich allegorischen Ge-
stalten, sondern mit Personifikationen ethischer
Begriffe und psychologischer Affekte zu thun.
Es ist gewiss unrichtig, wenn man das Her-
vortreten dieser symbolisch-allegorischen Rich-
tung bei Apelles auf einen Einfluss der Schule
von Sikyon hat zurückführen und überhaupt sein
Verhältniss zu derselben so hat darstellen wol-
len, als ob der »idealistische Grundzug« seiner
»durch und durch ionischen Natur« durch die
»realistische Richtung der dorischen Kunst Si-
kyon’s« im innersten Grunde eigentlich mehr
Einbusse erlitten als Förderung erfahren habe.
Schon der Umstand, dass er dort nicht seine
erste Bildung erhielt, sondern dass er mit ge-
reiftem Bewusstsein zur Vollendung und Abrun-
dung seiner Studien Sikyon aufsuchte, hätte
von einer solchen Auffassung abmahnen sollen.
Die Klarheit, mit welcher er auf der Höhe seines
Ruhmes bei allem berechtigten Selbstgefühl
doch auch die Grenzen seines Verdienstes anzu-
erkennen wusste, scheint ihm auch schon in
jüngeren Jahren eigen gewesen zu sein. Er mag
gefühlt haben, dass die ihm von der Natur ver-
liehenen Gaben der strengen und systematischen
Durchbildung bedurften, wie sie gerade und
eben nur die sikyonisohe Schule darzubieten ver-
mochte. Und in dieser Richtung hat sie ihm ge-
leistet, was er erwartet, während auf denjenigen
Gebieten, auf welchen ihn die Natur weniger
freigebig bedacht, auch sie nicht so viel ver-
mochte, dass sie ihn über andere erhoben hätte,
wenn sie auch manche Mängel verringert und ab-
geschwächt haben wird.
Diese Gebiete bezeichnet Apelles selbst, in-
dem er dem Melanthios de dispositione, dem
Asklepiodor de mensuris oder, wie es in einer
zweiten Erwähnung heisst: in symmetria den
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