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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Nr. 3
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Widmer, Karl: Zur Charakteristik des Biedermaierhauses
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https://doi.org/10.11588/diglit.20726#0093
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ZUR CHARAKTERISTIK DES BIEDERMAIERHAUSES

VON PROF. KARL WIDMER, KARLSRUHE

Von allen Schöpfungen mittelalterlicher Baukunst
hat das bürgerliche Wohnhaus des Mittelalters
die längste Lebensdauer gehabt. Klimatische und
soziale Bedingungen haben eine Grundform ge-
schaffen, welcne alle Stilwandlungen vom Roma-
nischen bis zum Ende des Rokoko überdauerte.
Unter dem Einfluss des nordeuropäischen Himmels
entstand die für die ganze Erscheinung des Hauses
charakteristische hohe und steile Form des Giebels.
Denn ein steiles Dach lässt Regen und Schnee
leichter ablaufen als ein flaches. Die mittelalter-
lichen Städte waren Festungen. In den Zeiten des
Faustrechts musste der Bürger die Sicherheit eines
friedlichen Erwerbs hinter Mauer und Graben
suchen. Darum war der Raum knapp in den alten
Städten. Er zwang, die Häuser zusammenzupressen
und in die Höhe zu treiben. So bekam das mittel-
alterliche Haus seine schmale, hohe, darum in viele
Stockwerke übereinander geteilte Front; mancherlei
im Lauf der Zeit notwendig gewordene Anbauten
und Ausbauten gaben ihm den Charakter einer
malerischen Unregelmässigkeit. V
V An dieser Grundform hat der Wechsel der histo-
rischen Stile, der in der Wohnungseinrichtung so
grosse Wandlungen geschaffen hat, bei uns in
Deutschland nichts geändert. Nur Einzelheiten hat
er getroffen. Wo man z. B. gegen das Ende des
Mittelalters vom Fachwerk zum Steinbau überging,
trat das bekannte Motiv des gotischen Treppen-
giebels auf. Die Renaissance, das Barock haben
dann ihre besonderen Ornamente angebracht. Das
Gesamtbild des deutschen Bürgerhauses blieb das-
selbe bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts hinein.
Dann kam unter fremdem Einfluss etwas ganz Neues,
das mit der mittelalterlichen Form des Wohnhauses
überhaupt aufräumte. Gleichzeitig ging mit dem
Untergang des alten Reichs die erstarrte Form des
reichsstädtischen Republikentums in Stücke. Auf
beiden Gebieten des bürgerlichen Lebens, dem
politischen und dem künstlerischen wich ein Stück

Mittelalter den Forderungen einer neuen Zeit.

V Das Neue war der von Frankreich herüberge-
kommene Empirestil: nicht in seiner Entstehung,
aber in seiner Vollendung der künstlerische Aus-
druck des Napoleonischen Cäsarengedankens. Er
ist von Haus aus ein Monumentalstil und trat zu-
erst an öffentlichen Bauten auf. Staatsgebäude,
Kirchen, Theater wurden in die Formen des antiken
Tempels, die Säulenhalle mit dem flachen Giebel
gekleidet. Die abstrakte Fassadenarchitektur be-
gann ihr Wesen, welche die Form des Hauses nicht
aus der Bestimmung ableitet, sondern dem Inhalt
eine fertige Kunstform aufzwingt. Vom Monumen-
talbau drang sie dann auch in die Privatarchitektur
ein. Im Mittelalter hatte sich das Wohnhaus aus
sich entwickelt und sogar für die Aufgaben der
öffentlichen Profanbaukunst das Vorbild gegeben.
So war das mittelalterliche Rathaus eine Art von
erweitertem Bürgerhaus gewesen. Jetzt wurde das
Verhältnis umgekehrt. Die vom Monumentalbau
ausgehende Bewegung drückte dem städtischen
Haus überhaupt bis herab zur einfachsten Bürger-
wohnung die Züge eines von Grund aus veränderten
Wesens auf. Es lag aber noch so viel formenbildende
Kraft in der Zeit, dass sie den fruchtbaren Keim
aus den Aeusserlichkeiten des fremden Vorbildes
herausschälen und noch einmal zu einer selbst-
ständigen Form des Wohnhauses entwickeln konnte.

V Und zwar zu einer Form, die das Wohnen des
Bürgers mit den völlig veränderten Lebensbeding-
ungen, wie sie sich im Lauf der letzten Jahrhunderte
gestaltet hatten, wieder in Einklang brachte. Seit
die Macht des fürstlichen Absolutismus den fehde-
lustigen Adel gebändigt hatte, konnten sich die
geordneten Zustände eines modernen Staatswesens
mit der Sicherheit des Eigentums und Lebens be-
festigen. Die schützende Stadtmauer hatte ihren
Sinn verloren. Die Städte öffneten sich nach dem
freien Land. Um den Kern der Altstadt wuchsen
moderne Häuserviertel, die nach dem Vorbild der
 
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