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Zweite Vorlesung.
Nein, auch hier gilt die Regel, Andere mit demselben
Maasse zu messen, mit dem wir uns selbst messen. Wir
müssen erst zu verstehen lernen, ehe wir wagen zu ur-
theilen.
Geschiehtslosigkeit der Wilden.
Ein anderer schwerer Vorwurf gegen die Wilden ist,
dass sie keine Geschichte haben. Ein Wilder zählt kaum
die Tage eines Jahres, geschweige die Jahre seines Lebens.
Einige Negerstämme halten es sogar für unrecht, dies zu
thun, da es Mangel an Vertrauen zu Gott beweise! In
einem Lande, wo jedes Bauwerk, jedes Denkmal schnell
verschwindet, wo das Leben kurz ist, und wo auch die
Jahreszeiten so wenig von einander verschieden sind, dass
Niemand nach längeren Zeiträumen als Monden rechnet,
wird Alles schnell vergessen.1 Da diese Wilden keine
Kenntniss der Schrift haben, so kann natürlich bei ihnen
von dem, was wir Geschichte nennen, keine Rede sein.
Nun soll durchaus nicht in Abrede gestellt werden, dass
eine Interesselosigkeit sowol in Bezug auf Vergangenes
als Zukünftiges ein Beweis von niedriger Bildung ist; aber
man glaube nur nicht, dass diese Interesselosigkeit bei
allen sogenannten wilden Stämmen zu finden sei. Viele
von ihnen bewahren die Erinnerung von den Thaten ihrer
Väter und Grossväter, ja das Merkwürdige ist, dass sie,
ohne Schrift zu besitzen, im Stande gewesen sind, ihre
the Admiralty Islands, p. 13, und bei Matthews, Hidatsa Grammar,
p. 113. Marcel Devic, Sur l'origine etymologique de quelques noms
de nombre, Journal Asiatique, 1879, p. 545.
1 Codrington, Letter from Norfolk Islands, July 3, 1877..
Zweite Vorlesung.
Nein, auch hier gilt die Regel, Andere mit demselben
Maasse zu messen, mit dem wir uns selbst messen. Wir
müssen erst zu verstehen lernen, ehe wir wagen zu ur-
theilen.
Geschiehtslosigkeit der Wilden.
Ein anderer schwerer Vorwurf gegen die Wilden ist,
dass sie keine Geschichte haben. Ein Wilder zählt kaum
die Tage eines Jahres, geschweige die Jahre seines Lebens.
Einige Negerstämme halten es sogar für unrecht, dies zu
thun, da es Mangel an Vertrauen zu Gott beweise! In
einem Lande, wo jedes Bauwerk, jedes Denkmal schnell
verschwindet, wo das Leben kurz ist, und wo auch die
Jahreszeiten so wenig von einander verschieden sind, dass
Niemand nach längeren Zeiträumen als Monden rechnet,
wird Alles schnell vergessen.1 Da diese Wilden keine
Kenntniss der Schrift haben, so kann natürlich bei ihnen
von dem, was wir Geschichte nennen, keine Rede sein.
Nun soll durchaus nicht in Abrede gestellt werden, dass
eine Interesselosigkeit sowol in Bezug auf Vergangenes
als Zukünftiges ein Beweis von niedriger Bildung ist; aber
man glaube nur nicht, dass diese Interesselosigkeit bei
allen sogenannten wilden Stämmen zu finden sei. Viele
von ihnen bewahren die Erinnerung von den Thaten ihrer
Väter und Grossväter, ja das Merkwürdige ist, dass sie,
ohne Schrift zu besitzen, im Stande gewesen sind, ihre
the Admiralty Islands, p. 13, und bei Matthews, Hidatsa Grammar,
p. 113. Marcel Devic, Sur l'origine etymologique de quelques noms
de nombre, Journal Asiatique, 1879, p. 545.
1 Codrington, Letter from Norfolk Islands, July 3, 1877..