Herr Jsegrimm.
S4S
Herr Jsegrimm, der in seinem Leben so viele Missetha-
ten verübt hatte, fühlte nach und nach, daß seine Kräfte ab-
nähmen, und beschloß sofort noch an dem Abende seiner Tage
einen anderen Lebenswandel zu beginnen; denn sein Fell war ganz
zerzaust und fadenscheinig, wie man zu sagen pflegt, die Beine
wurden schwach, die besten Zähne waren ausgebissen und die noch
vorhandenen fingen an zu wackeln.
Der Bauer nimmt ihn als Schafknccht in Dienst und der
alte Jsegrimm führt die Schafe aus die Weide. Unter denselben
sieht er bald ein ganz junges Lämmchen, weiß wie Schnee, für
welches er sogleich eine ganz besondere Zuneigung faßt. Aber da
erwacht in ihm die alte Wolfsnatur — er lockt es her zu sich,
umarmt und küßt cS aber so inbrünstig,^ daß er endlich anfängt
vor lauter Liebe es zu fressen und in Kurzem von dem Lämm-
chen nichts mehr übrig war, als das weiße mit Blut bespritzte
Fellchen.
Er suchte sich daher auf dem Tandelmarkte verschiedene Klei-
dungsstücke um sich seinen früheren Feinden unkenntlich zu machen
und nahm den Wanderstab in die Hand, um sich einen ruhigen
stillen Posten für sein herannahendes Alter zu suchen.
Er kommt zu einem Bauern, und bietet demselben seine
Dienste an; indem er ihm vorstellt, daß er sehr gut mit dem
Vieh umzugehen verstehe, insbesondre mit den Schafen, da er
früher sehr viel mit Schäfern verkehrt und hauptsächlich mit
Schafen zu thun gehabt habe.
Als er nach Hause gekommen war, fragte der Bauer: „Knecht,
wo ist mein schönes weißes Lämmchen?" Da sprach Jsegrimm:
„Herr es hat mich angefallen, ganz wüthend und wollte mich
erwürgen, und wie ich mich nun so mühsam gegen es verthei-
digte, passirte mir das Unglück, daß ich es ein wenig unsanft
berührt habe." Da nahm der Bauer einen starken Prügel, schlug
den ungetreuen Knecht und warf ihn zum Hause hinaus.
Nun ging Jsegrimm zu einem andern Bauern, dem er sich
abermals als Knecht verdingte. Der Bauer übertrug ihm die
Obhut über das Geflügel und schärfte ihm besondere Aufmerk-
samkeit ein, wenn er und die anderen Knechte draußen im Felde
arbeiteten. „Sorgt' Euch nicht," sprach Jsegrimm, „Ihr werdet
mit mir zufrieden sein," und der Bauer ging mit seinen Leuten
auf's Feld. Kaum aber wußte sich Jsegrimm allein im Hause,
als er in den Hühncrhof trat, und mit blutgieriger Lust über
die arglos umhcrhüpfenden Hühner herfiel, und eins um's andere
zerriß. „Ha, so ein guter Bissen ist mir lange nicht zugekommen."
Als der Bauer nach Hause kam, bemerkte er sogleich was
geschehen, ries seinen Knecht und sprach: „Knecht, wo sind meine
Hühner, woher sind diese blutigen Federn, die überall im Hose
umher liegen?" „Herr," sprach Jsegrimm, „denkt Euch nur,
welch' verworfenes Gesindel von Hühnern Ihr in Eurem Hause
hattet. Als ich heute in den Hof trat, sah ich zu meinem Ent-
setzen, daß sich dieselben auf die leichtsinnigste Art dem Laster des
Spiels ergeben hatten, und ich unternahm es sogleich, meiner tief
gefühlten Pflicht eingedenk, sie zurecht zu weisen, und sie darüber
zu strafen, wobei mir das Unglück passirte, daß ich in meinem
gerechten Eifer gegen das Laster etwas lebhaft an einige von
euren Hühnern anstieß." „Du falscher Knecht" rief der Bauer,
„fort aus meinem Hause!" und schlug ihn und warf ihn vor
die Thüre.
Münchener Bilderbogen.
Da schüttelte sich Herr Jsegrimm und ging nach dem Walde
zu. Auf einmal aber blieb er stehen und sprach vor sich hin:
„Aller guten Dinge sind drei!" Zur Seite querfeldein lag ein
einsamer Bauernhof, auf den er rasch zuschritt. Er klopfte an die
Thüre und trat in die Stube, wo der Bauer mit seinen Knechten
beim Abendbrode saß. „Habt Ihr keine Arbeit für einen armen
alten Knecht? Wo zwölfe essen, merkt man den dreizehnten nicht
und was zu thun gibt's immer." „Es kommt mir nicht drauf
an," sprach der Bauer, „meinethalben kannst du bleiben."
Zlro. 247.
Da erhob sich aber der Oberknecht des Bauern und trat
Herrn Jsegrimm unter's Gesicht und sprach: „Wenn ich mich
nicht irre, so haben wir uns schon einmal gesehen, meinst Du
nicht?" „Es ist wohl möglich, vielleicht bei einem Tanze auf der
Kirchweih," erwiederte Jsegrimm. „Nein, nein," entgegnet der
Oberknecht, „bei einer viel ernsteren Gelegenheit. — Ja, Du bist's,
ich erkenne Dich hier an Deinem Ohre, von dem ich Dir selber die
Hälfte abgehauen habe, als Du voriges Jahr die Heerde meines
Herrn mörderisch angefallen. Du Landstreicher, Du Räuber, Du
Strolch!" „Was, der ist's?!" riefen die Knechte, indem sie alle
von ihren Sitzen aufsprangen. „Todt geschlagen den Mörder!
Nein, aufgchenkt — aufgehenkt — und zwar gleich!" und sie
pachten ihn, schleppten ihn hinaus an einen alten Baum hinter
der Scheuer, wo er, den Strick um den Hals, einen Posten fand,
der viel ruhiger und stiller war als er gewünscht hatte.
HerauSgegcben und verlegt von K. Braun und F. Schneider in München.
Druck von C. N. Schurich in M ü nche n.
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Herr Jsegrimm, der in seinem Leben so viele Missetha-
ten verübt hatte, fühlte nach und nach, daß seine Kräfte ab-
nähmen, und beschloß sofort noch an dem Abende seiner Tage
einen anderen Lebenswandel zu beginnen; denn sein Fell war ganz
zerzaust und fadenscheinig, wie man zu sagen pflegt, die Beine
wurden schwach, die besten Zähne waren ausgebissen und die noch
vorhandenen fingen an zu wackeln.
Der Bauer nimmt ihn als Schafknccht in Dienst und der
alte Jsegrimm führt die Schafe aus die Weide. Unter denselben
sieht er bald ein ganz junges Lämmchen, weiß wie Schnee, für
welches er sogleich eine ganz besondere Zuneigung faßt. Aber da
erwacht in ihm die alte Wolfsnatur — er lockt es her zu sich,
umarmt und küßt cS aber so inbrünstig,^ daß er endlich anfängt
vor lauter Liebe es zu fressen und in Kurzem von dem Lämm-
chen nichts mehr übrig war, als das weiße mit Blut bespritzte
Fellchen.
Er suchte sich daher auf dem Tandelmarkte verschiedene Klei-
dungsstücke um sich seinen früheren Feinden unkenntlich zu machen
und nahm den Wanderstab in die Hand, um sich einen ruhigen
stillen Posten für sein herannahendes Alter zu suchen.
Er kommt zu einem Bauern, und bietet demselben seine
Dienste an; indem er ihm vorstellt, daß er sehr gut mit dem
Vieh umzugehen verstehe, insbesondre mit den Schafen, da er
früher sehr viel mit Schäfern verkehrt und hauptsächlich mit
Schafen zu thun gehabt habe.
Als er nach Hause gekommen war, fragte der Bauer: „Knecht,
wo ist mein schönes weißes Lämmchen?" Da sprach Jsegrimm:
„Herr es hat mich angefallen, ganz wüthend und wollte mich
erwürgen, und wie ich mich nun so mühsam gegen es verthei-
digte, passirte mir das Unglück, daß ich es ein wenig unsanft
berührt habe." Da nahm der Bauer einen starken Prügel, schlug
den ungetreuen Knecht und warf ihn zum Hause hinaus.
Nun ging Jsegrimm zu einem andern Bauern, dem er sich
abermals als Knecht verdingte. Der Bauer übertrug ihm die
Obhut über das Geflügel und schärfte ihm besondere Aufmerk-
samkeit ein, wenn er und die anderen Knechte draußen im Felde
arbeiteten. „Sorgt' Euch nicht," sprach Jsegrimm, „Ihr werdet
mit mir zufrieden sein," und der Bauer ging mit seinen Leuten
auf's Feld. Kaum aber wußte sich Jsegrimm allein im Hause,
als er in den Hühncrhof trat, und mit blutgieriger Lust über
die arglos umhcrhüpfenden Hühner herfiel, und eins um's andere
zerriß. „Ha, so ein guter Bissen ist mir lange nicht zugekommen."
Als der Bauer nach Hause kam, bemerkte er sogleich was
geschehen, ries seinen Knecht und sprach: „Knecht, wo sind meine
Hühner, woher sind diese blutigen Federn, die überall im Hose
umher liegen?" „Herr," sprach Jsegrimm, „denkt Euch nur,
welch' verworfenes Gesindel von Hühnern Ihr in Eurem Hause
hattet. Als ich heute in den Hof trat, sah ich zu meinem Ent-
setzen, daß sich dieselben auf die leichtsinnigste Art dem Laster des
Spiels ergeben hatten, und ich unternahm es sogleich, meiner tief
gefühlten Pflicht eingedenk, sie zurecht zu weisen, und sie darüber
zu strafen, wobei mir das Unglück passirte, daß ich in meinem
gerechten Eifer gegen das Laster etwas lebhaft an einige von
euren Hühnern anstieß." „Du falscher Knecht" rief der Bauer,
„fort aus meinem Hause!" und schlug ihn und warf ihn vor
die Thüre.
Münchener Bilderbogen.
Da schüttelte sich Herr Jsegrimm und ging nach dem Walde
zu. Auf einmal aber blieb er stehen und sprach vor sich hin:
„Aller guten Dinge sind drei!" Zur Seite querfeldein lag ein
einsamer Bauernhof, auf den er rasch zuschritt. Er klopfte an die
Thüre und trat in die Stube, wo der Bauer mit seinen Knechten
beim Abendbrode saß. „Habt Ihr keine Arbeit für einen armen
alten Knecht? Wo zwölfe essen, merkt man den dreizehnten nicht
und was zu thun gibt's immer." „Es kommt mir nicht drauf
an," sprach der Bauer, „meinethalben kannst du bleiben."
Zlro. 247.
Da erhob sich aber der Oberknecht des Bauern und trat
Herrn Jsegrimm unter's Gesicht und sprach: „Wenn ich mich
nicht irre, so haben wir uns schon einmal gesehen, meinst Du
nicht?" „Es ist wohl möglich, vielleicht bei einem Tanze auf der
Kirchweih," erwiederte Jsegrimm. „Nein, nein," entgegnet der
Oberknecht, „bei einer viel ernsteren Gelegenheit. — Ja, Du bist's,
ich erkenne Dich hier an Deinem Ohre, von dem ich Dir selber die
Hälfte abgehauen habe, als Du voriges Jahr die Heerde meines
Herrn mörderisch angefallen. Du Landstreicher, Du Räuber, Du
Strolch!" „Was, der ist's?!" riefen die Knechte, indem sie alle
von ihren Sitzen aufsprangen. „Todt geschlagen den Mörder!
Nein, aufgchenkt — aufgehenkt — und zwar gleich!" und sie
pachten ihn, schleppten ihn hinaus an einen alten Baum hinter
der Scheuer, wo er, den Strick um den Hals, einen Posten fand,
der viel ruhiger und stiller war als er gewünscht hatte.
HerauSgegcben und verlegt von K. Braun und F. Schneider in München.
Druck von C. N. Schurich in M ü nche n.