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Im Jahre 1795 hatten Rußland, Preußen und Österreich die definitive Teilung Polens
durchgeführt. Damit war ein Staat von der Landkarte verschwunden, der sich doch auf
800 Jahre eigener Geschichte berufen konnte, wie er ja auch noch hundert Jahre zuvor
zu den Großmächten Europas gezählt hatte. Der Verlust der Unabhängigkeit und deren
Wiedergewinnung 1918 bezeichnen die Grenzen einer langen, gleichmäßigen Epoche in
der Geschichte der polnischen Nation, zu der man, als eine Art Vorspiel, meist auch die
Zeit des letzten Königs hinzurechnet: die Regierungszeit des Stanislaus August Ponia-
towski (1765-1795), in der sich schon die typischen Merkmale ankündigten, die dann
die Zeit der Teilungen bezeichnen sollten. Es ist die Malerei dieser Zwischenzeit und
ihre Entwicklung, die den besonderen Charakter der polnischen Kunst ausmacht und
von der dieses Buch handelt.

Das Fehlen eines gemeinsamen Staates und die Aufteilung Polens unter drei Besat-
zungsmächte waren die Ursachen dafür, daß die Hauptprobleme der polnischen
Geschichte sich im 19. Jahrhundert von den allgemeinen europäischen Tendenzen, die
theoretisch und praktisch auf den Nationalstaat abzielten, grundsätzlich unterschieden.
Die Polen hatten sich mit ihrer Teilung niemals abgefunden. Sie, die Teilung, wurde
nicht nur als allgemeine Tragödie empfunden, sondern lastete auch auf dem Schicksal
jedes einzelnen Polen. Zwischen 1795 und 1918 gab es eigentlich keinen Augenblick, in
dem man die Unabhängigkeit aufgegeben hätte, nicht aktiv für sie tätig gewesen wäre.
Diese Tätigkeit zeigte sich sowohl auf militärischem wie auch auf politischem Gebiet.
Man suchte nach Möglichkeiten - gewissermaßen parallel und gleichlaufend im dreige-
teilten Gebiet - mit denen man dennoch die Einheit bewahren, sogar sie entwickeln
wollte. Im Mittelpunkt stand der Gedanke vom Unterschied zwischen der Nationalität
einer- und der Staatsangehörigkeit andererseits. Ein Pole - ob er nun russischer,
preußischer oder österreichischer Untertan war oder ob er die Staatsangehörigkeit
irgend eines anderen Landes erworben hatte: er blieb doch vor allem Pole. Die Einheit
war gegründet in dem besonders lebhaften Bewußtsein der ethnischen, geschichtlichen
und kulturellen Gemeinsamkeit. Das 19. Jahrhundert war also, scheinbar widersinnig,
doch eine Periode gewesen, in der das nationale Selbstbewußtsein Polens zur Blüte
gekommen ist, so daß sogar Minoritäten integriert werden konnten. Wieviel polnische
Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler des 19. Jahrhunderts tragen deutsche Fami-
liennamen!

Die so besondere Lage der Nation bedurfte auch besonderer Mittel, daß sich ihr
Streben nach Einheit verwirklichen konnte. Die Regierungen, denen die einzelnen
Landesteile unterworfen waren, repräsentierten fremde, feindliche Mächte. Die Nation
als Ganzes besaß auch keine Einrichtungen, die eine normale Entwicklung ihrer
Gesellschaft ermöglicht hätten. Auch fehlten ihr die rechten Führer, die siegreichen
Militärs und erfolgreichen Politiker. Diesen Mangel überbrückte man durch eine rein
geistige Operation, die in ihrer Art einzig gewesen ist: man übergab nämlich die geistige
Führung der Nation der Kunst und den Künstlern. Sie sind es gewesen, die dem Volke
seine Identität wiedergeben, die den Weg in die Zukunft zeigen sollten.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernahmen die nationale Führerschaft drei
große, romantische Dichter: Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki und Zygmunt

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