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Im Zauberkreis der Jahrhundertwende

Die Jahre um 1890-1910 werden in der polnischen Kunstgeschichte als Epoche des
Modernismus oder auch als Junges Polen (Mloda Polska) bezeichnet. Diese Malerei
wird gewöhnlich als Antithese zur Kunst der vorangegangenen Periode gesehen,
obwohl sie unter vielen Gesichtspunkten eine konsequente Fortführung und Synthese
verschiedener Strömungen und Tendenzen war, die sich im vergangenen Jahrhundert
herausgebildet hatten. Zu diesem grundsätzlichen Gegensatz kamen andere, die den
Charakter einer Epoche bestimmten. Die alte Idee von der Kunst im Dienst der Nation
traf auf die neue Konzeption der »Kunst um der Kunst Willen«, des »l’art pour Part«.

Eben dieses elitäre Programm bildete neben einer raschen stilistischen Entwicklung das
größte Novum der Zeit um die Jahrhundertwende. Es ist schwierig, eine direkte
Verbindung dieses Phänomens zur gesellschaftlichen Situation zu finden, da sie keine
grundsätzlichen Veränderungen durchlaufen hatte. Ein neues wesentliches Element trat
nur in einer ganzen Reihe politischer Parteien auf, die von einer nationalen Rechten über
eine Bauernbewegung bis zu den Sozialisten reichten. Alle diese Organisationen, ob
nun legal, halblegal oder konspirativ, strebten - mit Ausnahme von rechts- und links-
extremen Randgruppen - über verschiedenartige Wege, die oft gegensätzlich waren, ein
gemeinsames Ziel an, das in der Vereinigung und der Unabhängigkeit des Landes
bestand.

Allerdings konnten sie nun nicht mehr - etwas wie Matejko - eine Führungsposition
beanspruchen; denn die europäische Malerei war inzwischen andere, mehr künstleri-
sche Wege gegangen, und die polnische war ihr darin gefolgt, so daß die einst enge
Beziehung zur politischen Situation Polens in den Hintergrund treten mußte.

Stanislaw Wyspianski, der in enger Beziehung zu Stanislaw Przybyszewski
stand, dem Propheten der Dekadenz, dem Vertreter der Idee »Kunst für die Kunst«,
war bis ins Tiefste überzeugt von der nationalen Mission seines Schaffens. Das Postulat
eines elitären Ästhetizismus konnte man zum Streben nach einem höheren Niveau in der
angewandten Kunst und im Handwerk umgestalten; ein Leben fast am Rande der
Gesellschaft führte zur Herausbildung einer neuen Einheit des literarisch-künstleri-
schen Milieus, die in den vorangegangenen Perioden so gefehlt hatte.

Auf dem entgegengesetzten ideologischen Standort fanden die Künstler keine solche
Personalisierung wie zu den Zeiten Grottgers und Matejkos. Die Formulierung eines
aktuellen Programms für die nationale Malerei war nicht einfach. Nur die Polnische
Sozialistische Partei setzte die Tradition eines direkten bewaffneten Kampfes, der in der
Revolution von 1905 seinen neuen Höhepunkt gefunden hatte, fort; sie war besonders
im liberalen Galizien wenig populär und erhielt erst vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges einen größeren Rückhalt. Als Quelle für Themen blieb nur die Geschichte,
die allerdings auf eine neue Weise aufgefaßt wurde: durch ein Prisma individueller,
manchmal schwierig zu entziffernder symbolischer Aussagen. In den Bauern entdeckte
man lebendige Träger geschichtlicher Traditionen. Geschichte und Volkstümlichkeit
verschmolzen zu einer Einheit und stellten für sich gegenseitig den richtigen Kontext
und Interpretationsschlüssel dar. Im zeitgenössischen Bauern entdeckte man die Würde
und Macht früherer Helden; Szenen und Gestalten aus der Vergangenheit wurden mit

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