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Geschichtsphilosophie und »Naturalismus«

Das entscheidende Ereignis, das die Haltung der Polen in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts bestimmte, war der Januaraufstand 1863. Er war der Abschluß der
romantischen Epoche in der Geschichte und Kultur der polnischen Nation. Verluste auf
Schlachtfeldern, sibirische Zwangsarbeit, eine weitere Emigrationswelle brachten im
Königreich Polen, d. h. in dem russischen Teilungsgebiet den Verlust einer ganzen
Generation von Jugendlichen mit sich. Im Ausland verstarben die letzten bedeutenden
Vertreter der großen Emigration von 1831. Zu Wort kamen neue Menschen, die aus den
ständigen Niederlagen ihre Konsequenzen gezogen hatten. Im Laufe des Vierteljahr-
hunderts nach dem Januaraufstand gaben also in Warschau positivistische Anschauun-
gen - mit Rationalismus und Fortschrittskult durchflochten und gegenüber dem Nach-
laß der vorhergehenden Epoche kritisch eingestellt - die Richtung an. In den Mittel-
punkt stellte man die Arbeit. Die Anhebung und Verbesserung der Wirtschaft, der
Lebensbedingungen und des Bildungswesens wurden zu wichtigsten patriotischen
Pflichten. In Galizien, das hinter der ökonomischen Entwicklung des Königreiches
zurückgeblieben war, erreichte das Programm einer Gruppe von Konservativen aus
Krakau, die sich um die Tageszeitung »Czas« (Zeit) gesellten, entscheidende Durch-
schlagskraft. Was in Warschau ein sozusagen weltlicher Positivismus war, war hier ein
eigentümlicher Historismus, der sich Werte zum Vorbild nahm, wie sie in der Tradition
des Adels und des Christentums enthalten waren. Diese Orientierung schien dabei der
Struktur der österreichischen Monarchie gut angepaßt, die sich nach dem Jahre 1866
liberal entwickelte; sie verzeichnete in Kürze wichtige Erfolge in Form einer weitgehen-
den regionalen Autonomie und uneingeschränkter Entwicklungsmöglichkeiten für die
Nationalkultur. Das preußische Teilungsgebiet durchlebte nach dem deutschen Sieg
von 1870/71 die überaus schwere Zeit eines Germanisierungsdruckes. Hier lag der
Nachdruck vor allem - anders als in Warschau - auf der Verteidigung des Polnischen und
des Katholizismus. Das preußische Rechtssystem ließ weiterhin, wie auch in den
vergangenen Jahrzehnten, einen Randbereich für Möglichkeiten eines legalen Wider-
standes in der Selbstverwaltungs- und Parlamentstätigkeit übrig. Diese Umwälzungen
wirkten sich direkt auf das künstlerische Schaffen aus. Die Auseinandersetzung zwi-
schen Positivismus und Romantik wurde besonders auf dem Gebiet der Literatur scharf
geführt. Die Literatur sollte die großen Konzeptionen und unerreichbare Ideale zu
Gunsten einer gewissenhaften Wirklichkeitsbeschreibung verwerfen. Den Platz der
philosophierenden oder sogar mystischen Poesie nahm die realistische Prosa ein.
Anders war die Situation in der Malerei. In ihr sah man ein Schaffensgebiet, das von
Natur aus realistisch gesinnt war und auf diese Weise den Bedürfnissen der Epoche
entsprach. Das durch die romantische Theorie formulierte Programm einer National-
kunst blieb aktuell, mehr noch: Nach 1860 ergaben sich erst die Möglichkeiten seiner
vollständigen Verwirklichung. So kam es also - obwohl in den fünfziger Jahren noch
Stimmen zu hören waren, die die Existenz einer Nationalschule der polnischen Malerei
leugneten und den Sinn von Anstrengungen für die Schaffung dieser Schule nicht
einsehen wollten - dazu, daß im nächsten Jahrzehnt die Situation ganz anders aussah.
Die Kritik, die damals selbst die Schwelle einer unabhängigen Fachlichkeit überschritt,

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