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Die große und die kleine Romantik

Die romantische Umkehr in der polnischen Kultur erfolgte im Lauf der zwanziger
Jahre. Hauptgebiet der Auseinandersetzungen des Alten mit dem Neuen war die
Literatur. Ihre Thesen besaßen weitreichende Bedeutung; denn sie umfaßten die
Gesamtheit der weltanschaulichen Probleme. Ihre Absicht, die unter den gegebenen
Bedingungen nicht offen zutage treten durfte, war die Formulierung eines politischen
Programmes für die Unabhängigkeit Polens.

Die Romantik ist also in Polen nicht im Kunstwerk zum höchsten Ausdruck gekom-
men - obwohl es auch das gegeben hat - sondern vor allem im bewaffneten Kampf, wie
beim Aufstand des 29. November 1830, der durch die Soldaten- und Studentenjugend
gegen jegliche kühle Vernunft begonnen worden war. Dieser Aufstand wurde niederge-
schlagen, und ein ähnliches Schicksal hatten die Aufstände der Jahre 1846, 1848 und
1863, was jedoch die führenden Kreise der Gesellschaft nicht entmutigen konnte.

So kam es im unterdrückten Polen wie auch in der Emigration, die nach 1831 im
polnischen Leben eine wachsende Rolle spielte, zur Verbreitung irrationaler Stand-
punkte und Einstellungen. Das Verhältnis zu Fragen des Vaterlandes und zur Unabhän-
gigkeit nahm den Charakter einer Nationalreligion an. Polen als »Christus der Natio-
nen« - eine Anschauung des uns schon bekannten Bischof-Poeten Woronicz - bildete
den Höhepunkt des romantischen Sendungsbewußtseins, das sich zu einem Messianis-
mus steigerte.

Nach dem Willen einer Gruppe von Publizisten, Philosophen und Poeten - Adam
Mickiewicz an der Spitze - sollten der unaufhörliche Kampf und die Opfer, die damit
verbunden waren, zur besonderen Mission Polens werden, das demnach die Leiden
zum Zwecke der Erlösung der Menschheit und das Aufzeigen seines Weges in eine echte
Freiheit auf sich zu nehmen hatte.

Eine Alternative zu dieser romantisch-aufrührerischen Einstellung kam erst nach der
Katastrophe des Januaraufstandes in Form des sogenannten Positivismus zum Vor-
schein. Der auf diese Weise entstandene Zwiespalt der politisch-kulturellen Orientie-
rungen ist für die Polen bis heute der gleiche geblieben. Weder der romantische noch der
positivistische Weg führten direkt zur Unabhängigkeit, die erst 120 Jahre später, 1918,
nach dem vollkommenen Zusammenbruch der europäischen Ordnung erreicht werden
sollte. Hinzu kommt, daß jeder dieser Wege Kosten und Gefahren mit sich brachte. Der
Positivismus, der in jeder Hinsicht, vor allem aber auf dem Gebiet des Bildungswesens
und der Wirtschaft einen Fortschritt bedeutete, beschwor mit seinen Vorstellungen die
Gefahr eines Kompromisses mit den Besatzermächten unter Verlust der nationalen
Hauptziele zu Gunsten begrenzter Erleichterungen herauf. Dies bezog sich sowohl auf
den eigentümlichen »ersten Positivismus« von 1815/1830, wie auch auf seine späteren
Formen von 1865/1885, schließlich auch auf die verschiedenen Konzeptionen einer
Versöhnungspolitik des 20. Jahrhunderts. Die romantische Idee des bewaffneten
Kampfes bewirkte nur, daß sich die Niederlagen periodisch wiederholten; die zahllosen
Deportierten und Emigranten hat Polen für immer verloren.

In der Situation, in der sich Polen im 19. Jahrhundert befand, war aber gerade ein
solches »Alles-auf-eine-Karte-Setzen« das beste Mittel gegen Resignation gegenüber
 
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