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LYNG-LÜN

NACH DEM VLAEMISCHEN DES POL DE MONT

Durch Li-yo-ing, wo aus morastiger Erde,
Der Riesenbambus aufschiesst wie ein Wald,
Ging, in Gedanken ganz verstrickt, der Weise,
Der Dichter Lyng-Lun. Kümmerlich sein Leib;
Doch seine Seele, die war gottesstark.
In breiten Stössen, osther, rauschten an
Die Winde voller Kraft und bliesen laut
Durch dieses Röhrichts palmenhohe Stämme;
Und wundersame Weisen weckten sie
Aus ihnen, dass es wie von Menschen klang.
Ein Singen, Jauchzen, und ein Klagen wars.

Bis zu des Weisen Füssen beugten sich
Die schlanken Schäfte, seinen Wangen längs
Schwebten wie Schmeichelhände ihre Blätter,
Die langen, schmalen. Und es hielt Lyng-Lun
In Schweigen sinnend einen Stamm zurück.
Und zwischen zweien Knorren schnitt er sich,
Genau inmitten schnitt ein Stück er sich
Heraus, und sieh: Da seinen Athem er
Dem Rohre einblies, schwoll ihm sanft ein Klang
Sehr tief und voll aus diesem Rohr entgegen,
Ein Klang, lebendig wie die eigne Stimme.

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Und wunderbar: als hätte rings um ihn

In Luft und Erden alles nur geschwiegen,

Bis dass ihm Stimme gab sein Menschenmund,

Ward nun mit eins die ganze Welt Gesang.

Der Hoangho, der seinen grünen Strom

Wie eine Flut von Schlangen vor ihm wälzte,

Er wieherte wie ein gepanzert Ross,

Wenn es zum ersten Mal im Lärm der Schlacht

Auf Schild und Brünne Schwerter klirren hört.

Der Fung-hoan, der rote Zaubervogel,

Schwang sich mit seinem Weibchen auf den Ast,

Und seiner Liebe süsse Sehnsucht klang

Wie lebend Gold.

Da rief Lyng-Lun, der Weise
Begeistert laut: ah, huldreiche Natur,
Ich höre deine Stimme. Brülle, Strom!
Sing, singe, roter Vogel! Winde, braust
Und rauscht Akkorde durch^ das schwanke Rohr,
Dass ich erlausche deiner Stimme Klang
Und in mich berge, denn es wird fortan
Mitklingen und mitsingen die Natur,
Wo seiner Seele Tiefgefühl der Mensch,
Der Leidende, ausklagt, ausjauchzt, aussingt.

Und sorgsam lauschend schnitt er Rohr auf Rohr

Sich aus dem grossen, schwanken Bambuswald

Und stimmte sie: sechs nach dem Rauschen

Des Stroms, des Röhrichts und der wilden Bäume,

Sechs andre aber nach der Vögel Sang

Und dem Insektensummen; band die alle

Andächtig aneinand und brachte sie

Voll hellen Jubels dem, der unterm Himmel

Als Sohn der Sonne diese Welt regiert,

Und niederkniend sprach er: Nimm dies, ha!

In diesen Rohren lebt des Weltalls Seele.

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