GIOVANNI SEGANTINI
MAN HAT sich lange Zeit vor der Alpenlandschaft
gefürchtet. Wie es Menschen giebt, die aus
Angst vor den Engländern nicht in die Schweiz
gehen, so ist die Alpenlandschaft den besten Land-
schaftsmalern als Motiv fast ausnahmslos auch noch
heute ein Greul, aus Furcht vor den Mätzchen, die
unbedeutende Künstler damit getrieben haben. Ja,
die Empfindlichkeit für die Pose jener Indiskreten
hat sich durch den Einfluss des paysage intime so
gesteigert, dass man von einer Pose der Natur
spricht und die Taktlosigkeiten der Stümper dem
grossen Modell vorwirft. Deutsche Landschafter
reisen jedes Jahr nach Holland's flachsten Gegen-
den, um sich immer wieder die nötige Widerstands-
kraft gegen das im verstecktesten Winkel ihrer
Seele etwa noch schlummernde letzte Hügelchen
zu holen. Wie man in der Literatur den Naturalis-
mus eine Zeit lang bis zum rasendsten Stumpfsinn
trieb, so steht selbst für Leute, die das Unmög-
liche in ein Bild hineinsehen, ein guter Teil der
heutigen Landschaft im Zeichen der Langeweile.
Es ist das über's Ziel schliessende Stück einer
Richtung, der wir unendlich viel verdanken. Nur ihr
gebührt das Verdienst, den modernen europäischen
Geschmack gebildet zu haben. Für den Geschmack
haben die grossen Schotten und Holländer, bei uns
Leute wie Liebermann, mehr gethan, als Böcklin
mit seiner fabelhaften Kraft. Für unsern Geschmack
kam Böcklin vielleicht noch zu früh; seine Nach-
folger beweisen, wie wenig fähig wir noch sind,
ihn zu verdauen. Wir haben immer noch zu viel
Phrasen im Leibe, um ohne Gefahr für unsre Be-
scheidenheit pathetisch reagieren zu dürfen. Erst
wenn das letzte Restchen Sentimentalität, das uns
noch von der guten alten Zeit übrig geblieben ist,
vertilgt ist, dürfen wir uns erlauben, Gemüt zu
haben. Bis dahin sollte es gesetzlich verboten
werden. Fast alle unsre Maler haben noch nötig,
in gegendlose Wüsteneien zu pilgern, um, wenn
sie die Phrase los sind, nun auch erst einmal den
Witz zu überwinden, mit dem sie sich zu rächen
suchen, die gefährliche Reaktion. Ganz klein sein,
ganz rein, und dann können auch die höchsten
Gebirge keinen Schaden mehr anrichten.
Einen einzigen Maler giebt es auf dem Continent,
der ohne Angst vor Kamecke schon heute die
C 193 1)
25*
MAN HAT sich lange Zeit vor der Alpenlandschaft
gefürchtet. Wie es Menschen giebt, die aus
Angst vor den Engländern nicht in die Schweiz
gehen, so ist die Alpenlandschaft den besten Land-
schaftsmalern als Motiv fast ausnahmslos auch noch
heute ein Greul, aus Furcht vor den Mätzchen, die
unbedeutende Künstler damit getrieben haben. Ja,
die Empfindlichkeit für die Pose jener Indiskreten
hat sich durch den Einfluss des paysage intime so
gesteigert, dass man von einer Pose der Natur
spricht und die Taktlosigkeiten der Stümper dem
grossen Modell vorwirft. Deutsche Landschafter
reisen jedes Jahr nach Holland's flachsten Gegen-
den, um sich immer wieder die nötige Widerstands-
kraft gegen das im verstecktesten Winkel ihrer
Seele etwa noch schlummernde letzte Hügelchen
zu holen. Wie man in der Literatur den Naturalis-
mus eine Zeit lang bis zum rasendsten Stumpfsinn
trieb, so steht selbst für Leute, die das Unmög-
liche in ein Bild hineinsehen, ein guter Teil der
heutigen Landschaft im Zeichen der Langeweile.
Es ist das über's Ziel schliessende Stück einer
Richtung, der wir unendlich viel verdanken. Nur ihr
gebührt das Verdienst, den modernen europäischen
Geschmack gebildet zu haben. Für den Geschmack
haben die grossen Schotten und Holländer, bei uns
Leute wie Liebermann, mehr gethan, als Böcklin
mit seiner fabelhaften Kraft. Für unsern Geschmack
kam Böcklin vielleicht noch zu früh; seine Nach-
folger beweisen, wie wenig fähig wir noch sind,
ihn zu verdauen. Wir haben immer noch zu viel
Phrasen im Leibe, um ohne Gefahr für unsre Be-
scheidenheit pathetisch reagieren zu dürfen. Erst
wenn das letzte Restchen Sentimentalität, das uns
noch von der guten alten Zeit übrig geblieben ist,
vertilgt ist, dürfen wir uns erlauben, Gemüt zu
haben. Bis dahin sollte es gesetzlich verboten
werden. Fast alle unsre Maler haben noch nötig,
in gegendlose Wüsteneien zu pilgern, um, wenn
sie die Phrase los sind, nun auch erst einmal den
Witz zu überwinden, mit dem sie sich zu rächen
suchen, die gefährliche Reaktion. Ganz klein sein,
ganz rein, und dann können auch die höchsten
Gebirge keinen Schaden mehr anrichten.
Einen einzigen Maler giebt es auf dem Continent,
der ohne Angst vor Kamecke schon heute die
C 193 1)
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