Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
die kleinen glitzernden Steinchen zu suchen, die den
Boden zu bedecken scheinen.

Und doch ist es ganz anders wie die Wirklich-
keit — Kamecke ist viel ähnlicher —, es ist keine
neue Natur, die wir plötzlich entdecken, sondern
es ist ein neues Temperament, das sie erkennend
neu schafft mit eignen Farben, eigenen Linien,
eignen Gestalten. Es ist der erste moderne Sym-
bolist, denn er schuf sich aus der Wirklichkeit
heraus neue Symbole. Die Liebe mit der er als
Naturkind die Erde betrachtet, gab ihm ein, die
Geschicke der Pflanzen und Sträuche der letzten
Lebewesen droben an den Abhängen der Berge
zu symbolisieren. Er zeigt den bewunderswerten
mühseligen Kampf der armen verlassenen Baume
drüben auf dem Hochplateau, wenn sie verzweifelt
die entlaubten Zweige zum Himmel emporrecken,
um Gnade vor dem Sturm zu erflehen. Und er
malt naiv und gläubig hin was er denkt. Wie der
Säugling an dem Busen der Mutter Nahrung und
Wärme erhofft, so sehnt sich der Baum mit allen
Zweigen nach dem grossen allmächtigen Leben, das
ihm neue Kraft geben soll, den wütenden Feinden
zu trotzen, und Segantini gewährt ihm mitleidig, was
die Natur oft versagt; die erstarrten Kinderlippen in
denen er sich die Seele des Baumes denkt, finden den
Engel, der ihnen die Brust reicht. In grossen
Zwischenräumen von einander, jeder allein, stehen
andere Bäume und kämpfen denselben Kampf. Alle
haben ihre kleinen nackten Kinderchen, und alle
Kinder finden ihren Engel. Manchmal ist das Kind
halb in dem Schnee an der Wurzel des Baumes
begraben, und der Baum biegt sich krampfhaft, wie

ein gespannter Bogen hinab, um seine Seele zu
bergen, die verloren zu gehen droht.

Segantini hat ein ergreifendes sehr zartes Myste-
rium in dem Bilde berührt, das Unbegreifliche,
Rührende der Lebensfähigkeit inmitten von Kälte
und Sterben.

Wir haben dies Bild aus der diesjährigen Münch-
ner Secession und die beiden zur selben Zeit in
Paris und Venedig ausgestellten Gemälde des
Malers wiedergegeben. In diesen beiden verlässt
er nicht den realen Boden, und selbst da wirkt er
symbolisch, vielleicht noch stärker, gerade wie
Millet in seinen einfachen Darstellungen des Realen.
Man wird unwillkürlich an den herrlichen Millet
erinnert, die Mutter mit dem Kind, der gegen-
wärtig wieder in London (bei Obach) zum Vor-
schein gekommen ist. Nichts, gar nichts wie eine
Mutter mit dem Kind, aber das ganze grösste My-
sterium steckt darin.

Segantini zeigt was die moderne Malerei seit
Millet zugelernt hat, sie hat den Farbenreichtum
verzehnfacht, sie hat die Luft und die individuelle
Atmosphäre geschaffen, sie hat weite reiche Stoff-
gebiete wieder erobert: aber sie zeigt noch immer
unverkennbar die Basis, die jene grossen Natura-
listen geschaffen. Segantini ist reif geworden seit
den Bildern in der Jubiläums-Ausstellung 91. Sie
stammten aus seinen Zwanziger Jahren, heut ist er nahe
den Vierzigern. Die Schrullen, die ihm damals noch
anhafteten — köstlich dem Kenner, der die Fehler
des Genies verehrt — hat er abgestreift. Nun geht
er ruhig seinen Weg; der kann ihn noch weit führen.

C 195 ö
 
Annotationen