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an Zeit zu haben, und wenn er das Träumen nicht allzusehr
liebt, wenn er gern den Gedanken der Anderen nachspäht,
kann es sogar vorkommen, dass er sich in neue Bücher
vertieft. Es sind dann die letzten des buchhändlerischen Spät-
frühlings, die er in der Eile vor seiner Abreise in den Koffer
gepackt hat. Warum auch unter den alten Winternovitäten
nochmals wählen ? Sie bringen kaum etwas Neues und gewiss
kein Meisterwerk. Die Mode-Autoren haben wohl ihren jähr-
lichen Beitrag gespendet, Loti sein „Jerusalem", Bourget
seine Amerikaphantasien, der köstliche Hervieu seine
„Armature", die jedoch weit hinter „Peints par eux-memes",
diesem Meisterwerke, zurückbleibt, Vanderem seinen„Charlie"
— nirgends jedoch ist ein Fortschritt gegen Früheres zu ver-
zeichnen. — Der Naturalistenpascha Zola lässt sein „Rom"
erst für nächsten Winter austrommeln. Freund Barres hält
uns immer noch mit seinem bereits vollendeten populären
Romane „LeursFigures" in Atem; gleichzeitig mit
demselben wird wohl „Les Loups" von Jules Case, ein
anderer politischer Roman aus der Gegenwart, erscheinen.

Grosse buchhändlerische Erfolge kann man seit Jahren
nicht mehr verzeichnen und kein einziger neuer Name ist
in der letzten Zeit in das Publikum gedrungen. Aber es sei
mir erlaubt, noch kurz von einigen Jüngeren zu sprechen,
die auf dem Wege zur Berühmtheit sind, und die vielleicht
morgen schon zu den Bekannten gerechnet werden, von denen
man aber in Deutschland wohl noch nichts weiter weiss.

Camille Mauclair ist daselbst bei Gelegenheit seines
„Eleusis" durch Studien von Ola Hansson und Hermann
Bahr bekannt geworden. Diese „Causeries sur la Cite In-
terieure" behandelten ästhetische Fragen in Mallarme'schem
Sinne. Es war blos eine etwas skeptische Behandlung von
Gedanken, die in der Luft liegen, aber in einer reizenden
Sprache geschrieben. Mauclair ist oft als der Zukunfts-
jüngling, „der Alles kann", dargestellt worden. Man hat
mich beschuldigt, ihn mit Loris verglichen zu haben. Er hat
dieselbe Virtuosität im Erfassen von Gedanken, dieselbe
Gewandtheit sich in gegebene Formen einzuschmiegen. Ob
er auch dieselbe Tiefe besitzt — ? Seine Gedichte („Sonatines
d'Automne") tragen kein besonderes Gepräge. Nun bringt
er seinen ersten Roman, „Couronne de Clarte", wenn
man diese metaphysischen Schwärmereien einen Roman
nennen kann. Mauclair's Helden haben kein Leben, es sind
blosse Schatten, die in Träumen dahinwandeln. Eine männ-
liche Gestalt, begleitet von MaYa, ihrem weiblichen Doppel-
gänger, zieht durch die Welt, von Insel zu Insel, durch weite
Meere, um das Leben kennen zu lernen. Diese fernen, geheim-
nisvollen Landschaften jedoch sind blos unerforschte Gegenden
des Geistes, die geheimnisvoll auf den Falten der Seele ruhen.
Was liegt an der blassen Wirklichkeit? „Die Wirklichkeit
ist die Tiefe" sagt Mauclair, und so durchsucht er die Tiefe
der Seele und seine Phantasie schwingt sich den Sternen ent-
gegen. In der Litteraturgeschichte kenne ich blos ein Werk,
das ihm zum Vorbild hätte dienen können; es ist Novalis'
„Heinrich von Ofterdingen", und vielleicht noch die Frauen-
phantasien eines Jean Paul. Ihm parallel hatte bereits Andre
Gide in seinem „Voyage d'Urien" ähnliche Versuche ge-
macht. Aber wie Mauclair selbst sagt: „mettez de Fart sur
la philosophie, cela ne donne rien". Die herrlichsten Bilder,
welche in der französischen Sprache je gewagt wurden, durch-
ziehen das Buch, aber sie schliessen sich zu keinem Gesamt-

eindrucke zusammen. Der metaphysische Roman wird nie
verwirklicht werden, weil es eben unmöglich ist, Fichte's
„Ich-Ich" oder die reine Vernunft dramatisch darzustellen.

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Paul Adam ist eine der merkwürdigsten Gestalten der
zeitgenössischen Litteratur. Er hat zehn Romane geschrieben,
von denen wenigstens die Hälfte ersten Ranges sind. Seine
sämtlichen Werke umfassen zwanzig Bände. Er schreibt in
alle grossen Blätter, und dennoch hat er den Erfolg nicht,
den er verdient hätte. Vor sechs Jahren war er mit Maurice
Barres zusammen boulangistischer Kandidat in Nancy und
eine Verschiebung von einigen hundert Stimmen hätte ihn
in der französischen Kammer zum Kollegen des glücklicheren
Freundes gemacht. Er hat eben kein Glück; er ist Utopist,
Volksbeglücker, Ideen- und Staatenumwälzer, und das lässt die
Leute sogar vor dem Talente zurückschrecken. Seine Bekannt-
schaft mit dem Volke und seine Entfremdung von ihm er-
zählt er uns in seinem neuesten zweibändigen Romane „Le
Mystere des Foules". Es ist für ihn gewissermassen eine
Abrechnung mit einer ganzen Periode, das Re'sume seiner
früheren Theorien, eine Skizzierung neuer Hoffnungen und
neuer Träume. Bei der einfachen Schilderung der boulangisti-
schen Aventure in Nancy giebt er den ganzen gewaltigen
Entwurf einer Psychologie des lebenden, pulsierenden Volkes,
der tobenden Menge mit ihrer grossen Seele und ihren kleinen
Instinkten. Dessling, der Held des Buches, bemüht sich ver-
geblich seine volksbeglückenden Theorien ins Praktische zu
übertragen. In politischen Versammlungen hört er den Pöbel
schreien und lärmen, er fühlt unter der groben Hülle das
Weinen und Wehklagen heraus. Aber je mehr er die Menge
kennen lernt, je mehr er unter sie tritt, desto mehr erkennt
er auch ihre Dummheit, ihre Bosheit und ihre Hässlichkeit.
So wird seine Berührung mit dem Volke nach und nach eine
Enttäuschung an dem Volke und er gewinnt die Ueber-
zeugung, dass die Erlösung des Volkes ausserhalb des Volkes
liegt. In dieser Schilderung des Parteikampfes in einer kleinen
Stadt hat Paul Adam Gewaltiges geleistet. Sein Roman ist
voller Ungleichheiten und Lücken, aber überreich an Bildern
und Gedanken ganz in Balzac'scher Art. Das Buch schliesst mit
einer Vision des Zukunftskrieges, der durch die finanzielle
Kombination eines Grossindustriellen entsteht. Dessling, der
überall mit seinen Illusionen bankrott gegangen ist, marschiert
nun als eingezogener Reservist gegen den Feind. „Der Krieg
ist die ästhetische Decadence des Menschen, wie Trunksucht
und Geilheit". Das Heer der modernen Barbaren tritt siegreich
in Feindeslande. So verlangte es die Entwicklung des Romans,
denn nur unter dem siegenden Pöbel verloren, konnte Dessling
seinen Kelch ganz austrinken. Er wurde selbst zum Barbaren,
zum Sieger . ..

Im „Mystere des Foules" sind die meisten Gestalten
kaum verhüllte Personen aus der Wirklichkeit. Der so ver-
rufene „Roman ä clef" scheint neu aufzuleben. Diese Durch-
sichtigkeit ist in neueren Büchern nicht selten. Manchmal
giebt man sich nicht einmal die Mühe, für die Personen neue
Namen zu finden, man überträgt sie einfach aus dem Leben.
Vielleicht ein neuer Grund dafür, dass man die Bücher nur in
bestimmten Milieux versteht. Auch Robert Scheffer hat man
vorgeworfen, in seinem „Chemin nuptial" Gestalten aus

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