Da wandte ich die Augen hin zu denen, die sich der Höhe nahten. Es waren
nicht gar viele, denn der Weg war weit und ansteigend. Darum konnten ihn
die Uebermüdeten nicht mehr wandern, so sehr sie sich auch sehnen mochten nach
Erhebung aus der Verflachung des Alltags. Aber die noch Kraft hatten, kamen
an und fanden das Haus an der Berglehne, und sie sahen den gestürzten Baum und
das zerrissene Dach und das Weib, das im Abendsonnenschein auf der Schwelle sass.
„Wo ist dein Mann?" — frugen sie.
„Fortgegangen!"
„Wohin?"
„Die Höhe hinauf, seinen Weg, dem Licht und dem Leben nach!"
Da frugen sie nicht mehr, sondern begannen zu murren und zu schelten über
den Pflichtvergessenen. Das Weih liess sie und rührte sich nicht. Da aber, als das
Tosen sich ausgetobt, erhob sie sich von der Schwelle und blickte ihnen ins
Gesicht. Ihr Mund begann zu sprechen, und was sie sprach, klang wie ein gewaltig
rauschender Hymnus.
„Ja, fort ging er, die Höhe hinan, seinen Weg, der ihn zog zu Leben und
Licht. Denn seht, er wohnte im Thalgrunde, wie ihr, und von Pflicht sprach ich
ihm, wie ihr, und die Pflicht erdrückte ihn und seine Liebe, wie sie euch und die
eurige verkümmernd am Boden hält. Im Schatten erstarrte sein Herz, und der
Krampf legte sich um seine Kraft und hielt sie nieder. Wenn je wir Abends zur
Höhe stiegen, kehrten wir wieder zu Thal mit der Sehnsucht im Herzen, und der
Sehnsucht folgte das graue Gespenst der Unzufriedenheit auf dem Fusse und lagerte
sich auf unsere Schwelle. Wie kam es nur? Er wollte mein Glück, ich wollte sein
Glück, aber wir sahen die Liebe sterben und wussten nicht Rat. Ich konnte ihm
nichts mehr geben, er mir nicht mehr, denn unsere Kräfte waren lahm geworden.
Und wir fühlten es, und in unsern Augen spiegelte sich die Angst, die Angst, das
gewaltige Weh der sterbenden Liebe. Da kam in der Nacht der Blitz und machte
uns den Himmel frei, und wir sahen den Himmel und die Morgensonne. Und ihre
Strahlen kamen und erzählten uns von Licht und Liebe. Die Erinnerung wehte
leise über uns, die Erinnerung an jene kurze selige Zeit, da wir in der Sonne
wandelten, bis uns der kühle Thalgrund der Pflichten umschloss und unser Dasein
umschattete. Aufjauchzte mein Herz, und ich trat zu ihm: Gehe deinen Weg,
sagte ich ihm, den steilen Weg zur Höhe und lerne wieder leben und lieben und
schaffen! Und was du schaffest, lass es mich wissen, und ich will dein Dolmetscher
sein für die Menschen. Die Freude soll ihnen wieder nahen mit der Liebe, die
verschüchtert auf heimlichem Pfade vor dir hergeht. — So liess ich ihn ziehen und
segnete sein Beginnen in der wiedererwachten Erinnerung an unsere Jugendzeit.
Denn wer als Kind die Sonne sah, wird sie suchen sein Leben lang, bis die Träume
des Kindes sich erfüllen und ihn zurückgeleiten dahin, wo im Sonnenlicht die Liebe
waltet und das Leben in bunten Farben blüht. Und nun freut euch mit mir und
segnet auch ihr sein Thun! Ein Mensch fand den Pfad wieder, den die Einsamen
wandelten bisher, aber wenn ihr wieder Kunde vernehmet von dem Freuden-
licht, das diesen Pfad umströmt, so werdet ihr Vertrauen fassen und kommen
und helfen, den Pfad auszubauen zu herrlicher Strasse, zur Via triumphalis be-
glückender Liebe."
C 231 D
50
nicht gar viele, denn der Weg war weit und ansteigend. Darum konnten ihn
die Uebermüdeten nicht mehr wandern, so sehr sie sich auch sehnen mochten nach
Erhebung aus der Verflachung des Alltags. Aber die noch Kraft hatten, kamen
an und fanden das Haus an der Berglehne, und sie sahen den gestürzten Baum und
das zerrissene Dach und das Weib, das im Abendsonnenschein auf der Schwelle sass.
„Wo ist dein Mann?" — frugen sie.
„Fortgegangen!"
„Wohin?"
„Die Höhe hinauf, seinen Weg, dem Licht und dem Leben nach!"
Da frugen sie nicht mehr, sondern begannen zu murren und zu schelten über
den Pflichtvergessenen. Das Weih liess sie und rührte sich nicht. Da aber, als das
Tosen sich ausgetobt, erhob sie sich von der Schwelle und blickte ihnen ins
Gesicht. Ihr Mund begann zu sprechen, und was sie sprach, klang wie ein gewaltig
rauschender Hymnus.
„Ja, fort ging er, die Höhe hinan, seinen Weg, der ihn zog zu Leben und
Licht. Denn seht, er wohnte im Thalgrunde, wie ihr, und von Pflicht sprach ich
ihm, wie ihr, und die Pflicht erdrückte ihn und seine Liebe, wie sie euch und die
eurige verkümmernd am Boden hält. Im Schatten erstarrte sein Herz, und der
Krampf legte sich um seine Kraft und hielt sie nieder. Wenn je wir Abends zur
Höhe stiegen, kehrten wir wieder zu Thal mit der Sehnsucht im Herzen, und der
Sehnsucht folgte das graue Gespenst der Unzufriedenheit auf dem Fusse und lagerte
sich auf unsere Schwelle. Wie kam es nur? Er wollte mein Glück, ich wollte sein
Glück, aber wir sahen die Liebe sterben und wussten nicht Rat. Ich konnte ihm
nichts mehr geben, er mir nicht mehr, denn unsere Kräfte waren lahm geworden.
Und wir fühlten es, und in unsern Augen spiegelte sich die Angst, die Angst, das
gewaltige Weh der sterbenden Liebe. Da kam in der Nacht der Blitz und machte
uns den Himmel frei, und wir sahen den Himmel und die Morgensonne. Und ihre
Strahlen kamen und erzählten uns von Licht und Liebe. Die Erinnerung wehte
leise über uns, die Erinnerung an jene kurze selige Zeit, da wir in der Sonne
wandelten, bis uns der kühle Thalgrund der Pflichten umschloss und unser Dasein
umschattete. Aufjauchzte mein Herz, und ich trat zu ihm: Gehe deinen Weg,
sagte ich ihm, den steilen Weg zur Höhe und lerne wieder leben und lieben und
schaffen! Und was du schaffest, lass es mich wissen, und ich will dein Dolmetscher
sein für die Menschen. Die Freude soll ihnen wieder nahen mit der Liebe, die
verschüchtert auf heimlichem Pfade vor dir hergeht. — So liess ich ihn ziehen und
segnete sein Beginnen in der wiedererwachten Erinnerung an unsere Jugendzeit.
Denn wer als Kind die Sonne sah, wird sie suchen sein Leben lang, bis die Träume
des Kindes sich erfüllen und ihn zurückgeleiten dahin, wo im Sonnenlicht die Liebe
waltet und das Leben in bunten Farben blüht. Und nun freut euch mit mir und
segnet auch ihr sein Thun! Ein Mensch fand den Pfad wieder, den die Einsamen
wandelten bisher, aber wenn ihr wieder Kunde vernehmet von dem Freuden-
licht, das diesen Pfad umströmt, so werdet ihr Vertrauen fassen und kommen
und helfen, den Pfad auszubauen zu herrlicher Strasse, zur Via triumphalis be-
glückender Liebe."
C 231 D
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