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von Muskeln; auf das Bedürfnis der Ausspannung, das er
nach den Anstrengungen einer jeden seiner grossen Bildnis-
schöpfungen empfinde, wird seine Neigung zum Pamphlet-
schreiben zurückgeführt. Im vollen Gegensatz zu den
Akademikern lasse er Ernst nur in der Ausübung seiner Kunst
•walten. Die Behauptungen seines ten o'clock, dass es nie
künstlerische Zeiten gegeben habe, dass Nationalität in der
Kunst nicht existiere, werden, als teils in seinem individuellen
Bildungsgang begründet, teils aus Widerspruchssinn hervor-
gegangen, zurückgewiesen. Das Bildnis seiner Mutter, im
Luxembourg, -wird als sein bestes Bild bezeichnet; der Ver-
fasser aber zieht persönlich noch die unter dem Einfluss teils
des Velazquez, teils der Japaner entstandene Miss Alexander
vor und macht hierbei die hübschen Bemerkungen, dass wie
Watteau, Gainsborough, Turner durch Rubens' Palette, so
Chardin und der ihm als Kolorist nahe verwandte Whistler
durch die von Velazquez beeinflusst worden seien; dass aber
die Japaner, im Gegensatz zu den Europäern, die meinten, es
sei genug die Natur zu kopieren, gewusst hätten, dass es noch
besser sei, die Natur zu beobachten.

Von den englischen Kunstverhältnissen heisst es: Das
Publikum scheint — im Gegensatz zu Litteratur und Musik
— unfähig, gute von schlechter Malerei zu unterscheiden;
doch nein, es unterscheidet sehr wohl gute von schlechter
Malerei, nur zieht es regelmässig die schlechte vor. — Jene
Art der Malerei, die das Sujet, das Kostüm, die angebliche
Lokalfarbe ungebührlich betont, wird von Moore scharf ge-
geisselt; wenn aber diese Theaterszenen nachahmende Art
der Malerei auf Greuze zurückgeführt wird, so bleibt uner-
wähnt, dass die vorhergehenden Klassizisten nicht weniger
lebende Bilder darstellten: nur gab es damals neben der
Heldentragödie noch kein Diderotsches bürgerliches Trauer-
spiel. — Der Londoner Akademie wird zum Vorwurf ge-
macht, dass sie, wie das überall geschieht, den Genius wohl
geduldet habe, wenn er populär war, ihn aber mit Füssen ge-
treten habe, wenn er nicht populär war. Die Regel sei da-

her, dass die grossen Künstler in unserem Jahrhundert nicht
vor ihrem fünfzigsten Jahre anerkannt würden, also dreissig
Jahre der Missachtung zu überstehen hätten. Als ein war-
nendes Beispiel wird Millais angeführt, der vor seiner Auf-
nahme in die Akademie jedes Jahr ein schönes Bild gemalt
habe, Autumn Leaves, St. Agnes Eve, The Orchard, The
Rainbow, Mariana, Ophelia u. s. w.; durch seine und Watts'
Aufnahme sei freilich die Akademie vor ihrer Zerstörung
durch die emporkommende Macht der Präraphaeliten gerettet
worden, statt der Akademie aber sei der Genius eines der
grössten englischen Maler zerstört worden; denn mit Millais'
Ehrlichkeit und Schaffenskraft war es seitdem aus.

Akademiker und Händler seien eben einer verstärkten
Prostituierung der Kunst günstig gestimmt. Dass Männer
um der blossen Liebe zur Malerei willen die Kunst ausüben
sollten, sei durchaus abstossend für jeden gesund-denkenden
Philister. Für den Durchschnitts-Engländer ist nichts so un-
angenehm, wie ein gutes Gemälde. Er betrachtet es als eine
Beleidigung, und was ihn besonders aufregt, ist die Schwie-
rigkeit, es für eine unmoralische That zu erklären; instinktiv
fühlt er, dass es unmoralisch ist, aber das Verbrechen scheint
sich auf irgend welche Weise einer näheren Bestimmung zu
entziehen.

Die Kunst aber, sagt Moore, sei eine arme kleine Zi-
geunerin, deren eigenste Lebensbedingung die Freiheit ist; die
keine Gesetzsammlungen kennt, allen Vorschriften aus dem
Wege geht, sich keiner Ordnung fügt, nur in unheilvollen
Zeiten leben kann, wenn die Aufmerksamkeit der Welt auf
andere Dinge abgelenkt ist und es daher zulässt, dass sie im
Schatten der Hecken lebe, und träume im Anblick der Sterne.
— Zweck der neuen Kunstkritik sei es, ihr die nötige freie
Bewegung zu verschaffen, gegen jede Uniformierung zu pro-
testieren. — Eine Sammlung, wie die des Chantry Bequest im
South Kensington Museum, die von der Akademie mit Hilfe
der ioo ooo Pfund des Mr. Chantry zusammengebracht wor-
den sei, bilde eines der sieben Greuel der Civilisation.

W. von Seidlitz

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