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DIE BERLINER THEATER IM WINTER 1895/96

N WALD und Feld hat
der "Winter mild re-
giertem so stürmischere
Tage brachte er den
Brettern, die vor Zeiten,
als der rechte Scenen-
erschütterer erstanden
war,dieWelt bedeuteten,
lieber manchen Ruhm,
der fröhlich gedieh, ist
ein böser Rauhfrost ge-
kommen. Und mehr
als ein Stern, der "Weisen
und Unweisen für einen
Leitstern galt, ist hinter Gewölk verschwunden.

Aber die Niederlagen, die ein Teil unsrer Dramatiker
erlitten hat, waren nicht in jedem Falle für den Besiegten,
den Erfolgverlassenen beschämend. Mehr als einmal trat es
grell zu Tage, dass das Publikum der Erstaufführungen, das
nur zu oft über Triumpf oder Aechtung eines Werks allein
entscheidet, nicht blos in seiner Masse ästhetisch unreif oder
gleichgiltig, sondern auch in Parteien und Kliquen zerrissen
ist, deren Losung zumeist mit Kunst und Kunstprinzipien
wenig zu thun hat.

Da ist es kein Wunder, dass sich dem Unbefangenen,
der über den Tagesstreit hinaussieht, zuweilen die Frage auf-
drängt: Ist denn überhaupt das Theater ein Kunstinstitut?
Berührt sich das, was die Menge im Theater sucht an Erregung
zum Lachen und Weinen, und was sie hinnimmt, ohne die
Erregungsmittel wählerisch zu prüfen, auch nur auf Meter-
länge mit der ästhetischen Empfindungswelt? Ist das, was
die Bühne an Unterhaltungslabsal spendet, im Durchschnitt
näher mit der Kunst verwandt, als etwa das Spiel von Affen,
Gänsen und zappelnden Klowns in der Zirkusarena? Und

selbst dann, wenn einmal ein Kunstwerk lebendige Erquickung
vergönnt, kommt das Werk auf der Bühne in seinem innersten
Wert, in seinem ganzen Reichtum zur Geltung ? Ist es mög-
lich, dass das schnell vorüberfliegende Scenenbild auch die
feineren und feinsten Empfindungssaiten erschwingen lässt?
Hindert nicht die ebenso grelle wie flüchtige Augenblicks-
erregung die harmonische Verschmelzung der einzelnen
Empfindungs- und Anschauungsmomente, steht sie nicht der
geistigen Verarbeitung und Ausnutzung des Eindrucks hem-
mend im Wege? Wird nicht im Theater das Wesentliche
aller künstlerischen Wirkung, das allmähliche Verklingen
und Nachklingen des Eindrucks fast unmöglich gemacht?

Das alles sind Fragen, die ich in dieser Uebersicht wohl
aufwerfen, aber nicht ausspinnen kann. Nur das eine scheint
mir gewiss, dass die Bühne am allerletzten geeignet ist, das
zu sein, was die Leiter von Volksbühnen und sonstige
Idealisten mit schnellfertigem Enthusiasmus in ihr sehen: eine
künstlerische Erziehungsanstalt für die Menge. Wer als
ästhetisch Reifer das Bühnenbild in sich aufnimmt, wer seine
Empfindung und Einbildung geübt hat, rasch zu erfassen,
in einem Augenblick alle Tiefen eines künstlerischen Ein-
drucks zu durchmessen, dem mag auch im Theater vielleicht
ein voller und reiner Kunstgenuss beschieden sein. Die
Menge jedoch wird, wie ich fürchte, im Theater nicht zur
Kunst erzogen, sondern von ihr wegerzogen. Ist doch nicht
die Erregung, die ein Kunstwerk hervorruft, das Wesentliche,
worauf es ankommt, sondern die Mittel, durch welche der
Schöpfer die Erregung erwirkt. Gerade das Theater aber
verführt den ästhetisch Schwachen, nur die Erregung mitzu-
nehmen, ohne dass ihm Zeit und Möglichkeit bleibt, die
Erregungsmittel zu beurteilen. Seine Aufmerksamkeit wird
derart auf das grob Aeusserliche, auf die Schale gelenkt, dass
er den Kern gar nicht vermisst, einem tieferen Eindringen
und geniessenden Versenken eher entwöhnt, als zugeneigt wird.

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