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HERMANN OBRIST

SCHONlange, schon seitdem wir zuverlässig wussten,
dass die Malerei auch in Deutschland eine neue,
starke Bewegung begonnen habe, schon seit all den
Jahren blickten wir umher, ob auch im Kunst-
gewerbe ein solcher Vorgang zu erkennen wäre:
wir, denen es als unwürdig, armselig und als ein
Mangel männlichen Stolzes erschien, dass man
immerzu die Toten um ihre Erfindungen und um
ihre Schönheit bat, um das Leben, unser Leben
zu schmücken. Wir dachten daran, dass die Meister,
welche den geübten Handwerkern unserer Ahnen
kösdiche Vorbilder entwarfen, nach denen sie
schmieden, weben, schnitzen, sticken, Erde formen
konnten, ehrfurchtsvoll
an den Wahrzeichen
der Vergangenheit vor-
übergingen, um aus
ihrem eigenen Fleisch
und Blute, durch eigenes
Sinnen und Erfinden die
Symbole, die Formen,
Farben und Verzier-
ungen zu gewinnen,
welche den Dingen des
täglichen Gebrauches
aufgeprägt wurden. —
Wir blickten umher
und fanden dergleichen
bei uns nicht. Un-
sere Baumeister errich-
ten Wohnungen nach

den Mustern längst verlebter Zeiten, und die,
welche die Häuser einzurichten und zu schmücken
berufen wurden, plünderten die Gräber, beraubten
die Toten ihrer Zierate und stellten diese selbst oder
deren Nachbildungen in den dunklen Gemächern auf.
Und zwischen den vergilbten Tüchern, den rostigen
Beschlägen, den wurmstichigen Truhen und all dem
verbrauchten Hausrate arbeiteten unsere Mannen
schufen unsere Künstler, da wuchs unsere Jugend
heran, da lachte das Leben, das wir dennoch,
dennoch über alles lieben. Denn die, welche vor-
geben, dass sie die Zeugen der Vergangenheit
höher schätzen, als das, was unser Wille, unser

Gedanke, unsere Kraft
und Freude ist, die
lügen; es sei denn,
dass sie krank sind und
sich mit dem Kirchhofe
zu schaffen machen
müssen. Sie mögen die
Beraubung der Toten-
stadt fortsetzen. Doch
wir wollen verhindern,
dass die frisch empor-

sprossenden Pflanz-
ungen der gesunden
ihrer Kraft frohen Gei-
ster nicht auch fernerhin
von den Tritten der
Wühlenden zerstampft
werden.

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