Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
noch nichts 5 aber er träumte, und auf seinen
einsamen Wanderungen erblickte er im Geiste
prächtige Geräte, geschmiedete Gitter, üppige Tape-
ten, köstliche Gefässe, in denen die Formen der
Pflanzen aus seinem Gedächtnisse neu aufkeimten.
Allein — noch fehlte der Stil, die Umbildung aus
eigener Kraft. Er vermochte es noch nicht, sich
aus dem blossen Anordnen der Naturformen an
sich zu befreien.

Endlich, mit 25 Jahren, gab er sein Studium auf
und entschloss sich, die Karlsruher Kunstgewerbe-
Schule zu besuchen, hoffend, dass ihm hier der
Weg vom „Naturalisieren" zum eigentlichen Kunst-
schaffen gezeigt würde. Gewissenhaft, doch noch
ohne Selbstvertrauen, glaubte er, nicht auf eigene
Faust entwerfen zu können, ehe er alles gründlich
studiert hätte, was im Kunstgewerbe bisher getrieben
worden war, ehe er jede lehrbare Technik sich
zu eigen gemacht. — Die Enttäuschung war ent-
setzlich. Man peinigte ihn mit gedankenlosen Imi-
tationen alter Ornamente, mit der ganzen schul-
meisterlichen Banalität, welche das besondere Kenn-
zeichen des heutigen Kunstgewerbes in deutschen
Landen ist. Er sah, wie die frischesten, natür-
lichsten Talente unter seinen Mitschülern erstickt
wurden, sein Trotz wurde zur Empörung. Er
verliess die Schule, flüchtete in seine Einsamkeit
zurück und begann selbständig für Keramik zu
entwerfen. Der Grossherzog von Sachsen-Weimar
erkannte die Bedeutung dieser Arbeiten und ent-
sandte den jungen Künstler nach Bürgel in Thü-
ringen, wo die kleinen Töpfereien seine Entwürfe
mit Erfolg zur Ausführung brachten. Man beob-
achtet an den hier gebrannten Krügen und Tellern
bereits das Erwachen der rein-künstlerischen, ori-
ginal stilisierenden Gestaltungskraft. Die Ornamente,
aus einfachsten Pflanzen- und Tiermotiven gebildet,
werden nicht mehr durch sklavisches Abzeichnen
der natürlichen Erscheinungsform gewonnen, der
Naturalismus schwindet, der Stil ersteht, der Knecht
der Anschauung und Eindrücke wird zum gebie-
tenden, gestaltenden Herrn.

Vornehme Herren lieben es, ein gutes Gewissen
von sich selber zu haben. Sie wollen alle Anlagen
ihres Geistes und Körpers zur Blüte, zur vollen
Pracht heranbilden. Ihr Stolz ist, sich selbst genug
gethan zu haben und ihr bestes Werk in sich selbst
erblicken zu können. Ohne diese freie Bildung
aus eigener Tiefe und Höhe keine Souveränität,
ohne Souveränität — kein grosser Herr. Ein Künst-
ler aber, der nicht auch ein grosser Herr ist, wird
seine Eindrücke und Einfälle nicht kommandieren

können und mithin die höchste schöpferische Eigen-
art niemals erreichen. — Obrist blieb nicht bei
der Keramik. Eine glühende Sehnsucht nach plas-
tischem Gestalten trieb ihn nach Paris — er wurde
Bildhauer. Er begann, indem er sich diesmal wohl
hütete, sich einem Schuleinflusse auszusetzen, so-
fort lebensgross nach der Natur zu modellieren.
Seine lange zurückgedrängte Kraft trieb ihn in
Riesenschritten vorwärts. Heute ersehen wir aus
seinen phantasievollen Brunnen, aus seinen poetisch
beseelten Büsten, aus seinen wundersamen Vasen,
dass die Plastik von ihm ebenso viel zu erwarten
hat, wie das Kunstgewerbe: neue Bahnen, oder,
um mit Cherubin im „Figaro" zu singen: „Neue
Freuden, neue Schmerzen." Er erscheint auch hier
mit trotziger, fremder und doch einfacher Eigen-
art. Wenn wir, bei Gelegenheit an dieser Stelle
einen Ueberblick über seine Skulpturen geben
werden, so hoffen wir darthun zu können, dass
ihm in der modernen deutschen Plastik eine ähn-
liche Stellung zuerkannt werden muss, wie dem
grossen Jean Carries in der französischen, welcher
seine ruhmreiche Laufbahn nur in umgekehrter
Richtung zurücklegte wie Obrist: er begann als
Bildhauer und endigte als Keramiker.

Inzwischen hatte Obrist in Florenz begonnen,
seine Entwürfe für Seidenstickerei auszuführen.
In Berthe Ruchet trat ihm eine feinsinnige Gehilfin
zur Seite, welche, ohne vorher ihre Hand durch
die konventionelle Stickerei verdorben zu haben,
ihr ganzes zeichnerisches und technisches Können
in den Dienst der neuen Ideen stellte. Ihrer
Fähigkeit, auch die intimsten Werte der Entwürfe
nachzuempfinden und ihrer staunenswerten That-
kraft, die auch vor den äussersten Schwierigkeiten
nicht verzagte, ist es mit zu verdanken, dass wir
Obrists Träume heute so köstlich erfüllt sehen. —
Die von Hermann Obrist und Berthe Ruchet mit
so bewunderungswürdiger Kühnheit, ohne Aussicht
auf öffentlichen Erfolg oder gar Erwerb gegründete
Werkstatt für Kunststickerei wurde im Herbste 1894
von Florenz nach München verlegt.

Das Schaffen Obrists wird sich über das ganze
Kunstgewerbe verbreiten: Holzschnitzerei, Schmie-
den, Keramik, Stickerei und Tapisserie. Die aller-
einfachsten Dinge und Handfertigkeiten ist er
künstlerisch zu durchdringen bestrebt. Die Ober-
fläche einer Fussbank aus Leder füllt er durch
Aufnähen schlichtstilisierter Wasserpflanzen von
Tuch oder Leder aus — nur einige Blätter, doch
so geschickt und anmutig, so klug und natürlich
zugleich angeordnet, dass die ornamentale Wirkung

C 322 B
 
Annotationen