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die lustige Chansonette mit dem kecken Stumpf-
näschen, dem geschminkten kleinen Mündchen, den
ausgelassenen Geberden und dem unverwüstlichen
Lächeln. Diesem Genius ist er treu geblieben in
allen seinen Plakaten, von denen er mehr als 800
geschaffen hat. Mag er nun eine Mutter, die ihren
Kindern Spielzeug schenkt, darstellen, mag er eine
Zeitung, einen Wein, ein Theatertelephon, eine Kunst-
ausstellung anzeigen, immer bringt er wieder das
toll einherspringende,
von unten beleuchtete,
verführerische Frauen-
zimmer von der Pariser
Spezialitätenbühne, mit
dem graziösen Lächeln.
Cheret hat vor allen
anderen Künstlern des
Plakats nicht nur die
grössere Zahl der ge-
schaffenen Werke vor-
aus, bei ihm ist auch die
grösste künstlerischeEin-
heitlichkeit zu finden.
Er hat von Anfang an
gespürt, dass das Plakat,
das sich ungesucht auf-
drängen soll, keine vor-
nehme, keine dezente,
sondern eine markt-
schreierische Kunst ist,
und er hat es sofort mit
derjenigen Kulturer-
scheinung eng ver-
knüpft, bei der am we-
nigsten von Vornehm-
heit, am meisten von
Chic zu erzählen ist.
Ferner hat er bedacht,

dass seinem Kunstwerk _______________________

keine lange Lebensdauer
beschieden ist, und er

hat nie einen Augenblick versucht es monumental
zu gestalten: wirkungsvoll, sensationell wollte er
es machen. So hat er, der erste Vertreter des
künstlerischen Plakats, gleich die Hauptbedingung
für ein Plakat erkannt: es muss auffallen. Es braucht
sich nicht um die jeweiligen Schönheitsregeln zu
kümmern, wenn es nur auffällt. Cheret selbst er-
reicht das durch seine lustigen Farben. Wenn man sie
zusammen mit seiner übermütigen Zeichnung sieht,
so meint man Becken und Tarn-tarn, das Gesurr
von tausend animierten Faschingstimmen zu hören.

Noch in einem Punkt ist Cheret Meister und
wohl unerreicht — in der Art nämlich, wie er
die Schrift anzubringen weiss. Auch darin sind seine
Plakate die zweckentsprechendsten, weil es einfach
unmöglich ist, sie anzusehen ohne die Schrift mit
aufzunehmen: sie bildet mit der Darstellung zu-
sammen ein dekoratives Ganzes.

Wenn wir uns so vergegenwärtigt haben, wie
Cheret in seiner Kunst Inhalt und Form, Herstel-
lungsweise und Zweck-
mässigkeit einander so
entsprechen lässt und
etwas so einheitliches
schafft, so möchten wir
ihn nicht nur den Vater,
sondern gar den König
der Plakatkunst nennen.
Es giebt wenig Ab-
wechslung bei ihm, ja
er arbeitet sogar zweifel-
los nach der einmal ge-
wonnenen Schablone,
und manch Anderer hat
viel geistvollere Werke
geschaffen, aber so ganz
und gar Plakate wie seine,
sind die Arbeiten der
anderen nicht.

Gehen wir gleich zu
einem der geistvolleren
Künstler, einem der
raffiniertesten Meister,
die es je gegeben hat,
zu Henri de Toulouse-
Lautrec über. In seinem
zeichnerischen Können,
in seinem Phantasieen-
reichtum steht er hoch
über Cheret. Er hat
vielleicht überhaupt die
meisten und witzigsten
Einfälle gehabt von allen Plakatzeichnern. Was
ihn, bewusst oder unbewusst, zum Plakat führte,
war das Gefühl, dass es eine Augenblickskunst sei,
eine Kunst, deren Erzeugnisse schnell und sicher
vor dem Auge des Publikums verschwinden.

Man stelle sich einen Künstler vor, bei dem
die Einfälle immerfort sprudeln und bei dem mancher
Gedanke wohl albern, oder gar abgeschmackt ist,
und überhaupt nur der Beachtung wert ist, wenn
er in der Eile schnell an uns vorüberfliegt; mancher
andere wieder wie ein dummer Witz wirkt, über

JULES CHERET

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