geschwungenen Linien, die wir von der Antike her kennen,
sondern wuchtige Gestalten, wie der Verfasser der Apoka-
lypse sie geschaut, treten uns entgegen, Menschen von über-
weltlichem Maass und urgeschichtlichem Ernst. Auch die
Landschaften, wie die Todteninsel und der Prometheus, ge-
hören einem Heroenzeitalter an. Wo aber keine absonder-
liche Bildung die Aufmerksamkeit auf sich zieht, da bevölkert
sich der Hain sofort mit Wundergestalten einer anderen
Welt, mit Panen, Nymphen, Engelkindern, das Meer mit
Tritonen und Sirenen, Ungeheuern und Missgestalten. Gleich
der dichtenden Phantasie des Volkes sieht Böcklins Geist
hinter und über jeder Wirklichkeit eine zweite, neue Welt
voll neckischer, schalkhafter, harmloser Gebilde, eine Welt,
die auch real ist, aber nicht in der Natur, sondern in dem Geist
der Menschen ihren Sitz hat, daher auch, als unsre Welt,
färben-, formen- und beziehungsreicher ist als die uns fremd
gegenüberstehende Wirklichkeit. Hier tritt der Künstler,
ein zweiter Shakespeare, ganz zurück, aber nicht hinter der
Natur, sondern hinter dem Weltgeist, der aus ihm unmittel-
bar zu uns redet.
Ziehen wir die Summe, so sehen wir, wie deutscher und
französischer Geist, ein jeder in seiner Weise, dem Ziele nach-
streben, den Idealen unserer Zeit Form und Ausdruck zu
geben; die Franzosen mehr nach der Seite des Geschmacks
und der Empfindung, der Deutsche mehr nach der inhalt-
lichen, phantastischen, philosophischen Seite hin. Je stärker
diese Eigenschaften ausgeprägt werden, um so schwerer
werden sie der anderen Nation verständlich werden; um so
nachhaltiger aber wird der Gewinn sein, den die allgemeine
Kultur zu erwarten hat.
W. von Seidlitz
W '
C 339 D
W
sondern wuchtige Gestalten, wie der Verfasser der Apoka-
lypse sie geschaut, treten uns entgegen, Menschen von über-
weltlichem Maass und urgeschichtlichem Ernst. Auch die
Landschaften, wie die Todteninsel und der Prometheus, ge-
hören einem Heroenzeitalter an. Wo aber keine absonder-
liche Bildung die Aufmerksamkeit auf sich zieht, da bevölkert
sich der Hain sofort mit Wundergestalten einer anderen
Welt, mit Panen, Nymphen, Engelkindern, das Meer mit
Tritonen und Sirenen, Ungeheuern und Missgestalten. Gleich
der dichtenden Phantasie des Volkes sieht Böcklins Geist
hinter und über jeder Wirklichkeit eine zweite, neue Welt
voll neckischer, schalkhafter, harmloser Gebilde, eine Welt,
die auch real ist, aber nicht in der Natur, sondern in dem Geist
der Menschen ihren Sitz hat, daher auch, als unsre Welt,
färben-, formen- und beziehungsreicher ist als die uns fremd
gegenüberstehende Wirklichkeit. Hier tritt der Künstler,
ein zweiter Shakespeare, ganz zurück, aber nicht hinter der
Natur, sondern hinter dem Weltgeist, der aus ihm unmittel-
bar zu uns redet.
Ziehen wir die Summe, so sehen wir, wie deutscher und
französischer Geist, ein jeder in seiner Weise, dem Ziele nach-
streben, den Idealen unserer Zeit Form und Ausdruck zu
geben; die Franzosen mehr nach der Seite des Geschmacks
und der Empfindung, der Deutsche mehr nach der inhalt-
lichen, phantastischen, philosophischen Seite hin. Je stärker
diese Eigenschaften ausgeprägt werden, um so schwerer
werden sie der anderen Nation verständlich werden; um so
nachhaltiger aber wird der Gewinn sein, den die allgemeine
Kultur zu erwarten hat.
W. von Seidlitz
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