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Petersen, Eugen
Die Kunst des Pheidias am Parthenon und zu Olympia — Berlin, 1873

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https://doi.org/10.11588/diglit.933#0426
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418

weil die einende Kunst des Meisters uns im Stiche läfst, so möchte
umgekehrt bei besseren Nachbildungen seiner Werke zunächst der
Totaleindruck überwiegend sein, und so scheint mir erklärlich, dafs
die Otricolibüste so lange als Pheidias' Kunst repräsentierend ge-
nommen wurde.

In einer Hinsicht jedoch scheint Lysippos dem Pheidias sich
wieder mehr genähert zu haben als Skopas und Praxiteles, wenn
auch -vielleicht nur, um eben dadurch den Gegensatz seiner und
der Pheidiassischen Werke mehr hervortreten zu lassen. Sofern
wir nämlich den spärlichen Angaben oder dem Schweigen trauen
dürfen, waren die Götterbilder des Lysippos im Ganzen äufserlich
weniger bewegt durch concrete Motive als diejenigen der jüngeren
attischen Schule. Die Meister dieser hatten die Formen noch we-
niger verändert und sie nur aus der klaren affeetlosen Ruhe gleich-
sam erweckt und aufgeregt und dazu immer neue Bewegungs-
motive erfunden. Lysippos' Götter waren innerlich umgewandelt,
und von den menschlichen Gefühlsregungen trug der Körper nach
den Gesetzen menschlicher Natur die sichtbaren Spuren, Folgen
oder Bedingungen an sich. Hier war also die Erregung oder Er-
regungsfähigkeit, die Individualität, selbst in der Ruhe sichtbar,
und bedurfte es keiner besonderen Motive, um dieselbe zum Vor-
schein zu bringen.

Nehmen wir nun den Otricolikopf'), welchen wir ja auch nach
der Londoner Bronze zu einem stehenden Bilde ergänzten, als
Lysippisch, so erkennen wir auch innerlich eine bedeutende Ueber-
windung jenes in Wellenlinien sich bewegenden Pathos und eine
grofse Annäherung an die Mittellinie auf sich selbst ruhender
Klarheit. Der Unterschied zwischen dieser Ruhe und derjenigen
der Pheidiassischen Götter bleibt aber doch der, dafs die Lysip-
pischen nur die menschlich erworbene Ruhe des im Kampfe mit
sich und dem Leben gefestigten Charakters darstellen, jene des
Pheidias aber eine nie ernstlich getrübte und zu trübende, also
übermenschliche. Ihrer vernunftgemäfsen Göttlichkeit war Pheidias
mehr gerecht geworden, ihrer menschlichen Individualität aber
Lysippos.

J) Bestimmt als Lysippisch sprach die Büste auch De Witte an Annali
1868, S. 208.
 
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