Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Petri, Grischka; Strindberg, August
Der Bildprozeß bei August Strindberg — Köln: Seltmann & Hein, 1999

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.75392#0072

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
[Kapitels] Strindbergs Scheitern und die Entdeckung der Psyche

Die Phase nach Strindbergs Utilistenzeit wird in mehreren Teilschritten einge-
leitet, die ich hier nur summarisch wiedergeben kann. Die biographischen Er-
eignisse sind für den Bildprozeß Strindbergs von Bedeutung, weil sie zum
Verlassen des utilistischen Standpunktes der Bilderfeindlichkeit führten - die
Gersau-Photos gehörten zu den ersten Schritten in diese Richtung. Strindberg
ging den Weg jedoch bis ans bittere Ende - mit direkten Auswirkungen auf
seine Bildkunst.
Die tiefgreifendsten Ereignisse waren 1884 der Prozeß um seine Novel-
lensammlung Heiraten P und seine sich über Jahre hinziehende Scheidung
von Siri. Wegen einer zu lockeren Bemerkung über den beim Gottesdienst
verwendeten Wein in seiner ersten Heiraten-Novelle wurde Strindberg 1884
der Gotteslästerung angeklagt. Nach langem Hin und Her holte ihn Karl Otto
Bonnier aus der Schweiz zur Verhandlung nach Stockholm. Er wurde zwar
freigesprochen, geriet aber im Kielwasser der Ereignisse mit den radikalen
Vertretern des Jungen Schweden in Mißstimmigkeiten, da er nicht den
Märtyrer hatte spielen und sich einsperren lassen wollen. Hinzu kam, daß
er trotz des Freispruchs in Schweden persona non grata war. Seine wirtschaft-
liche Basis war bedroht, weil sich seine »unsittlichen, jugendgefährdenden<
Bücher nur noch schlecht verkauften. Fazit: Seine Gegner verschärften den
Ton, und seine Mitstreiter wandten sich enttäuscht ab. Damit wurde auch
seinem utilistischen Programm der Boden unter den Füßen entzogen, denn
für welche Gesellschaft kam es noch in Frage? Strindberg hatte eine »ideologi-
sche Endstation«2 erreicht. Dies alles ließ ihn allmählich an seinen künstleri-
schen Fähigkeiten zweifeln: »Wahrscheinlich bin ich leergeschrieben.«3
Diese äußeren Umstände trafen auf ein grundsätzlich sehr hochgespann-
tes, leicht irritierbares Selbstbewußtsein, das »ihn dazu veranlaßt, alles, was
seelisch an ihn herantritt, äußerst schwer und ernsthaft zu behandeln.«4 Vor
allem ernsthaft: »Er besaß Heiterkeit und Satire, und er konnte scherzen, aber
Humor, die Gottesgabe, die den Menschen in die Lage versetzt, sich selbst
und das Leben >von oben< zu betrachten - der war ihm verwehrt geblieben.«5
Diese ernsthafte, existentielle Empfindlichkeit - eine Facette seines morali-
schen Impulses - trug das Ihrige dazu bei, daß Strindberg nach den Ereignis-
sen des traumatischen Prozesses »aufgerieben, unfähig zu arbeiten und öko-
nomisch untergraben«,6 kurz »psychisch gebrochen«, ohne Glauben weder an
Politik noch an Kunst dastand.7
Strindberg blieb also nicht mehr viel außer ihm selbst und - noch -
seiner Familie. Er verließ die politische Utopie und den ganzen »Weltverbes-

44
 
Annotationen