7. Kristallographien
[...] ich hatte dieser Tage auf meinem Fenster einen Tangwald von Wasserkristallen. Das
Wasser scheint somit außer seiner hexagonalen Kristallisierung vegetativen Bildungs-
formen zu folgen.3
Gleichzeitig damit bin ich zu meinen Kristallaggregaten zurückgekehrt, die ich direkt
ohne Abzüge von der Glasplatte photographiere, auf der die Kristallisierung stattfand.
Und diese Aggregate - (Eisblumen) haben mir eine Perspektive in die Verstecke der
Natur geöffnet, daß ich staune ...4
Auf einer zugefrorenen Schaufensterscheibe sieht er später das ganze
botanische System von den Moosen bis zu den Palmen >aufgezeichnet<.5
Gut fünfzehn jahre später im Blauen Buch ist es dann >erwiesen<, daß die Eis-
blume eine Pflanze ist.6 Ein Kristall ist ambivalent, Ausdruck einer Transfor-
mation zwischen flüssig und fest: fest gewordene Flüssigkeit kann wieder
flüssig werden. Er ist bald »festgefrorener Äther<, bald >Kristallpflanze< oder
zerfließendes Gestein. Damit ist er geeigneter >Stoff< für romantische Gedan-
kenspiele zwischen Leben und Tod, anorganischer und organischer Natur7 -
und für Strindberg ein dankbares und offensichtliches Indiz dafür, daß sich
die festen Einteilungen der Naturwissenschaft sprengen lassen könnten.
Was sich für uns heute als photographisches Kunstwerk darstellt, war für
Strindberg in erster Linie naturwissenschaftliches Experiment, auch wenn sich
bei Strindberg die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft nie klar nach-
zeichnen lassen. Gerade im Bereich der Kristallmikrostrukturen läßt sich zwi-
schen ihnen eine Affinität feststellen, von der in erster Linie die Photographie
Nutzen gezogen hat. Stelzer stellt fest, daß die Annahme unglaubwürdig ist,
Künstler hätten nicht von der Wissenschaft als Bildlieferant profitiert.8
Strindberg ist das beste Beispiel dafür, weil er sich als Wissenschaftler ansah.
Er griff ja gerade zur Kamera, um die Symbiose der Naturgesetze mit dem
Mystizismus zu beweisen, um Belege für seine Theorie über die »ererbten
formgebenden Kräfte«, die er in den Kristallen zu sehen glaubte, zu erhalten.9
Photographiegeschichtlich wird für Strindberg auf die Ähnlichkeit seiner
Vorgehensweise mit der von William Henry Fox Talbot verwiesen. Der engli-
sche Photopionier, der Gegenstände wie Blätter sich auf Photopapier abzeich-
nen ließ, plante eine Publikation mit dem Titel The Pencil of Nature - auch
in dieser Vorstellung geht es um ein unmittelbareres und damit wahrhaftige-
res Bild von Natur. Strindbergs Blumenphotogramme sind nicht erhalten.10
Für die Zeit nach Strindberg erinnert die Vorgehensweise in gewisser Hinsicht
an Moholy-Nagy und Man Ray.11 Strindberg kam zu einem Projekt mit
ähnlichen Folgen, wenn auch aus einem ganz anderen, letztlich mythischen
38 und 39 August Strindberg
Kristallographien
ca. 1894-96
91
[...] ich hatte dieser Tage auf meinem Fenster einen Tangwald von Wasserkristallen. Das
Wasser scheint somit außer seiner hexagonalen Kristallisierung vegetativen Bildungs-
formen zu folgen.3
Gleichzeitig damit bin ich zu meinen Kristallaggregaten zurückgekehrt, die ich direkt
ohne Abzüge von der Glasplatte photographiere, auf der die Kristallisierung stattfand.
Und diese Aggregate - (Eisblumen) haben mir eine Perspektive in die Verstecke der
Natur geöffnet, daß ich staune ...4
Auf einer zugefrorenen Schaufensterscheibe sieht er später das ganze
botanische System von den Moosen bis zu den Palmen >aufgezeichnet<.5
Gut fünfzehn jahre später im Blauen Buch ist es dann >erwiesen<, daß die Eis-
blume eine Pflanze ist.6 Ein Kristall ist ambivalent, Ausdruck einer Transfor-
mation zwischen flüssig und fest: fest gewordene Flüssigkeit kann wieder
flüssig werden. Er ist bald »festgefrorener Äther<, bald >Kristallpflanze< oder
zerfließendes Gestein. Damit ist er geeigneter >Stoff< für romantische Gedan-
kenspiele zwischen Leben und Tod, anorganischer und organischer Natur7 -
und für Strindberg ein dankbares und offensichtliches Indiz dafür, daß sich
die festen Einteilungen der Naturwissenschaft sprengen lassen könnten.
Was sich für uns heute als photographisches Kunstwerk darstellt, war für
Strindberg in erster Linie naturwissenschaftliches Experiment, auch wenn sich
bei Strindberg die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft nie klar nach-
zeichnen lassen. Gerade im Bereich der Kristallmikrostrukturen läßt sich zwi-
schen ihnen eine Affinität feststellen, von der in erster Linie die Photographie
Nutzen gezogen hat. Stelzer stellt fest, daß die Annahme unglaubwürdig ist,
Künstler hätten nicht von der Wissenschaft als Bildlieferant profitiert.8
Strindberg ist das beste Beispiel dafür, weil er sich als Wissenschaftler ansah.
Er griff ja gerade zur Kamera, um die Symbiose der Naturgesetze mit dem
Mystizismus zu beweisen, um Belege für seine Theorie über die »ererbten
formgebenden Kräfte«, die er in den Kristallen zu sehen glaubte, zu erhalten.9
Photographiegeschichtlich wird für Strindberg auf die Ähnlichkeit seiner
Vorgehensweise mit der von William Henry Fox Talbot verwiesen. Der engli-
sche Photopionier, der Gegenstände wie Blätter sich auf Photopapier abzeich-
nen ließ, plante eine Publikation mit dem Titel The Pencil of Nature - auch
in dieser Vorstellung geht es um ein unmittelbareres und damit wahrhaftige-
res Bild von Natur. Strindbergs Blumenphotogramme sind nicht erhalten.10
Für die Zeit nach Strindberg erinnert die Vorgehensweise in gewisser Hinsicht
an Moholy-Nagy und Man Ray.11 Strindberg kam zu einem Projekt mit
ähnlichen Folgen, wenn auch aus einem ganz anderen, letztlich mythischen
38 und 39 August Strindberg
Kristallographien
ca. 1894-96
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