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Einleitung
nördlich und südlich der Alpen vor Gericht mit dem salischen Recht. Noch im
Hochmittelalter stand das Rechtsbuch für die Zugehörigkeit zum höchsten
fränkischen Adel und gab somit dem Herrschergeschlecht der Salier seinen
Namen. Woher rührte diese unwahrscheinliche Persistenz des Rechtsbuchs?
Welche Relevanz wurde ihm über die Jahrhunderte zugeschrieben? Warum
konnte es für ganz unterschiedliche politische Konstellationen der fränkischen
Geschichte Sinnstiftungen bereithalten? Weshalb wurde es trotz des sozialen,
politischen und kulturellen Wandels nie substantiell verändert? Und vor allem:
Was sagt uns die ,Biographie' dieses Rechtsbuchs über die Funktion und sym-
bolische Bedeutung von Gesetzgebung?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt meines Buchs. Am Anfang des Projekts
standen jedoch die Quellen, genauer: die Beobachtung, dass die Forschung
bislang allein den wenigen Handschriften der ursprünglichen merowingischen
Fassung der Lex Salica aus der Zeit um 500 Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Die
Masse der 80 Handschriften mit den karolingischen Überarbeitungen des frän-
kischen Rechtsbuchs zu untersuchen versprach, nach der Auffassung eines
Historikers, „herzlich wenig Ertrag"2. Meine Vermutung war, dass sich dieser
unwahrscheinliche Erfolg eines uralten Rechtsbuchs nicht allein aus den Re-
präsentationsbedürfnissen des karolingischen Kaisertums erklären konnte. Es
musste mehr hinter diesem außergewöhnlichen Nachleben stehen als bloß das
Ziel der Imitation römischer Kaiser!
Das Buchprojekt startete also in erster Linie als ein Versuch über die kultu-
relle und politische Bedeutung der Lex Salica im karolingischen Frankenreich des
9. Jahrhunderts. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass ich die Art und Weise, wie
das fränkische Rechtsbuch über Jahrhunderte hinweg kulturellen Sinn stiftete,
nicht unabhängig von der Frage nach den Ursprüngen untersuchen konnte. Am
Ende zog mich dann doch das „Idol der Historiker" (Marc Bloch) in seinen Bann:
die Suche nach den Ursprüngen. In den ersten Kapiteln beschäftige ich mich
deshalb mit dem merowingischen Frankenreich im 5. und 6. Jahrhundert, mit der
Verwandlung der römischen Welt und der Bedeutung von Recht für die For-
mierung ethnischer Identitäten. Dabei werde ich nur selektiv auf die wichtigsten
Regelungsbereiche der Lex Salica eingehen und nicht die gesamte Kodifikation in
allen ihren Facetten vorstellen. Mein Buch ersetzt also nicht einen dringend er-
forderlichen historischen Kommentar zur Lex Salica und ebenso wenig eine
notwendige neue kritische Edition der unterschiedlichen Fassungen. Es befasst
sich vielmehr mit der kulturellen Bedeutung von Gesetzgebung für die Ge-
meinschaft des Frankenreichs.
Als Text, der vom römischen Recht kaum beeinflusst wurde, hatte die Lex
Salica in der Geschichtsschreibung lange Zeit einen Ehrenplatz als nationaler
Urtext der Deutschen. Historiker und Juristen des 19. und frühen 20. Jahrhun-
derts sahen im Rechtsbuch der Franken eine Spiegelung der ursprünglichen
Zustände der Germanen, vergleichbar dem Werk des Tacitus über die Germania.
Die Gelehrtenweit wurde deshalb zutiefst erschüttert, als der jüdische Historiker
2 Eckhardt, Einführung, S. 219. Zustimmend Buchner, Besprechung, S. 370.
Einleitung
nördlich und südlich der Alpen vor Gericht mit dem salischen Recht. Noch im
Hochmittelalter stand das Rechtsbuch für die Zugehörigkeit zum höchsten
fränkischen Adel und gab somit dem Herrschergeschlecht der Salier seinen
Namen. Woher rührte diese unwahrscheinliche Persistenz des Rechtsbuchs?
Welche Relevanz wurde ihm über die Jahrhunderte zugeschrieben? Warum
konnte es für ganz unterschiedliche politische Konstellationen der fränkischen
Geschichte Sinnstiftungen bereithalten? Weshalb wurde es trotz des sozialen,
politischen und kulturellen Wandels nie substantiell verändert? Und vor allem:
Was sagt uns die ,Biographie' dieses Rechtsbuchs über die Funktion und sym-
bolische Bedeutung von Gesetzgebung?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt meines Buchs. Am Anfang des Projekts
standen jedoch die Quellen, genauer: die Beobachtung, dass die Forschung
bislang allein den wenigen Handschriften der ursprünglichen merowingischen
Fassung der Lex Salica aus der Zeit um 500 Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Die
Masse der 80 Handschriften mit den karolingischen Überarbeitungen des frän-
kischen Rechtsbuchs zu untersuchen versprach, nach der Auffassung eines
Historikers, „herzlich wenig Ertrag"2. Meine Vermutung war, dass sich dieser
unwahrscheinliche Erfolg eines uralten Rechtsbuchs nicht allein aus den Re-
präsentationsbedürfnissen des karolingischen Kaisertums erklären konnte. Es
musste mehr hinter diesem außergewöhnlichen Nachleben stehen als bloß das
Ziel der Imitation römischer Kaiser!
Das Buchprojekt startete also in erster Linie als ein Versuch über die kultu-
relle und politische Bedeutung der Lex Salica im karolingischen Frankenreich des
9. Jahrhunderts. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass ich die Art und Weise, wie
das fränkische Rechtsbuch über Jahrhunderte hinweg kulturellen Sinn stiftete,
nicht unabhängig von der Frage nach den Ursprüngen untersuchen konnte. Am
Ende zog mich dann doch das „Idol der Historiker" (Marc Bloch) in seinen Bann:
die Suche nach den Ursprüngen. In den ersten Kapiteln beschäftige ich mich
deshalb mit dem merowingischen Frankenreich im 5. und 6. Jahrhundert, mit der
Verwandlung der römischen Welt und der Bedeutung von Recht für die For-
mierung ethnischer Identitäten. Dabei werde ich nur selektiv auf die wichtigsten
Regelungsbereiche der Lex Salica eingehen und nicht die gesamte Kodifikation in
allen ihren Facetten vorstellen. Mein Buch ersetzt also nicht einen dringend er-
forderlichen historischen Kommentar zur Lex Salica und ebenso wenig eine
notwendige neue kritische Edition der unterschiedlichen Fassungen. Es befasst
sich vielmehr mit der kulturellen Bedeutung von Gesetzgebung für die Ge-
meinschaft des Frankenreichs.
Als Text, der vom römischen Recht kaum beeinflusst wurde, hatte die Lex
Salica in der Geschichtsschreibung lange Zeit einen Ehrenplatz als nationaler
Urtext der Deutschen. Historiker und Juristen des 19. und frühen 20. Jahrhun-
derts sahen im Rechtsbuch der Franken eine Spiegelung der ursprünglichen
Zustände der Germanen, vergleichbar dem Werk des Tacitus über die Germania.
Die Gelehrtenweit wurde deshalb zutiefst erschüttert, als der jüdische Historiker
2 Eckhardt, Einführung, S. 219. Zustimmend Buchner, Besprechung, S. 370.