Segmentierung, Fusion, Rechtspluralismus
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tionen, gemäß ihrem Recht und Gewohnheit (lege et consuetudine) zu regieren."189
Childerich II. bestätigte im Jahr 673 allen drei Reichen (Neustrien, Austrasien
und Burgund) ihr Recht (lex et consuetudo).19' Die Etablierung dieser Idee des
Rechtspluralismus war ein langsamer Prozess. Zweifellos nahmen schon einige
Quellen des 6. Jahrhunderts, allen voran die Praeceptio Chlothars I., diese Ent-
wicklung zum Teil vorweg. Schließlich wird dort das erste Mal ausdrücklich den
Römern die Geltung des römischen Rechts garantiert. Einen weiteren Markstein
bildet die Lex Ribuaria Chlothars II., nach der sich Fremde in Ribuarien auf ihr
fränkisches, burgundisches oder alemannisches Geburtsrecht berufen durften.191
Am wahrscheinlichsten erscheint mir daher, dass der Rechtspluralismus unter
Chlothar II. eine feste Form erhielt. Dieser König vereinigte das Gesamtreich in
seiner Hand, beließ aber den Teilreichen durch die Einsetzung von Hausmeiern
ihre Eigenständigkeit. Es erscheint plausibel, dass er den Teilreichen auch ihre
Rechtstraditionen bestätigte.
Das Modell der Lex Salica entwickelte sich somit zu einem Vorbild für die
anderen Völker des Frankenreichs. Die Alemannen erhielten im 7. Jahrhundert
ein Rechtsbuch, vielleicht auch die benachbarten Baiuwaren.192 Damit war eine
einschneidende Weichenstellung verbunden, die sich auf mehreren Ebenen be-
merkbar machte: Erstens schlug das Frankenreich damit einen Weg ein, der sich
vom Westgotenreich fundamental unterschied. Dort verdrängte das revidierte
und ergänzte Edikt Eurichs alle anderen Traditionen und schuf ein einheitliches
„gotisches" Recht für das ganze Königreich.193 Zweitens war damit die Petrifi-
zierung der Lex Salica eingeleitet. Wie der Epilog und der kurze Prolog zeigen,
wurde das fränkische Rechtsbuch bereits im späteren 6. Jahrhundert als mythi-
scher Urtext der Franken betrachtet, der nicht zur Disposition stand. Fortan blieb
das Rechtsbuch auf den nordgallischen Raum beschränkt und erfuhr keine
umfassende inhaltliche Revision. Drittens wurde die regionale Struktur des
Frankenreichs anerkannt, welche sich im Lauf des 7. Jahrhunderts immer stärker
ausprägte. Der König war rex Francorum, beherrschte das regnum Francorum, war
aber nicht an der Übertragung fränkischen Rechts und damit fränkischer Iden-
tität auf das gesamte Königreich interessiert. Dafür war die Lex Salica wegen ihres
Charakters als Sonderrecht nicht geeignet.
189 Formulae Marculfi I 8, S. 48.
190 Passio Leudegarii 7, S. 289: Interea Childerico rege expetiunt universi, ut talia daret decreta per tria
quam obtinuerat regna, ut uniuscuiusque patriae legem vel consuetudinem deberent, sicut antiquitus,
iudices conservare ...
191 Lex Ribuaria 35, 3, S. 87.
192 Zur Frage einer Urfassung der Lex Baiuvariorum aus dem 7. Jahrhundert vgl. Brunner, Königs-
gesetz; Wormald, The Making, 96-101; Siems, Lebensbild, S. 32-36. Zur Vorbildwirkung für das
angelsächsische Recht vgl. Wormald, The Making, S. 93-101; Jurasinski, Continental Origins.
193 King, Chindasvind; Koch, Ethnische Identität, S. 376.
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tionen, gemäß ihrem Recht und Gewohnheit (lege et consuetudine) zu regieren."189
Childerich II. bestätigte im Jahr 673 allen drei Reichen (Neustrien, Austrasien
und Burgund) ihr Recht (lex et consuetudo).19' Die Etablierung dieser Idee des
Rechtspluralismus war ein langsamer Prozess. Zweifellos nahmen schon einige
Quellen des 6. Jahrhunderts, allen voran die Praeceptio Chlothars I., diese Ent-
wicklung zum Teil vorweg. Schließlich wird dort das erste Mal ausdrücklich den
Römern die Geltung des römischen Rechts garantiert. Einen weiteren Markstein
bildet die Lex Ribuaria Chlothars II., nach der sich Fremde in Ribuarien auf ihr
fränkisches, burgundisches oder alemannisches Geburtsrecht berufen durften.191
Am wahrscheinlichsten erscheint mir daher, dass der Rechtspluralismus unter
Chlothar II. eine feste Form erhielt. Dieser König vereinigte das Gesamtreich in
seiner Hand, beließ aber den Teilreichen durch die Einsetzung von Hausmeiern
ihre Eigenständigkeit. Es erscheint plausibel, dass er den Teilreichen auch ihre
Rechtstraditionen bestätigte.
Das Modell der Lex Salica entwickelte sich somit zu einem Vorbild für die
anderen Völker des Frankenreichs. Die Alemannen erhielten im 7. Jahrhundert
ein Rechtsbuch, vielleicht auch die benachbarten Baiuwaren.192 Damit war eine
einschneidende Weichenstellung verbunden, die sich auf mehreren Ebenen be-
merkbar machte: Erstens schlug das Frankenreich damit einen Weg ein, der sich
vom Westgotenreich fundamental unterschied. Dort verdrängte das revidierte
und ergänzte Edikt Eurichs alle anderen Traditionen und schuf ein einheitliches
„gotisches" Recht für das ganze Königreich.193 Zweitens war damit die Petrifi-
zierung der Lex Salica eingeleitet. Wie der Epilog und der kurze Prolog zeigen,
wurde das fränkische Rechtsbuch bereits im späteren 6. Jahrhundert als mythi-
scher Urtext der Franken betrachtet, der nicht zur Disposition stand. Fortan blieb
das Rechtsbuch auf den nordgallischen Raum beschränkt und erfuhr keine
umfassende inhaltliche Revision. Drittens wurde die regionale Struktur des
Frankenreichs anerkannt, welche sich im Lauf des 7. Jahrhunderts immer stärker
ausprägte. Der König war rex Francorum, beherrschte das regnum Francorum, war
aber nicht an der Übertragung fränkischen Rechts und damit fränkischer Iden-
tität auf das gesamte Königreich interessiert. Dafür war die Lex Salica wegen ihres
Charakters als Sonderrecht nicht geeignet.
189 Formulae Marculfi I 8, S. 48.
190 Passio Leudegarii 7, S. 289: Interea Childerico rege expetiunt universi, ut talia daret decreta per tria
quam obtinuerat regna, ut uniuscuiusque patriae legem vel consuetudinem deberent, sicut antiquitus,
iudices conservare ...
191 Lex Ribuaria 35, 3, S. 87.
192 Zur Frage einer Urfassung der Lex Baiuvariorum aus dem 7. Jahrhundert vgl. Brunner, Königs-
gesetz; Wormald, The Making, 96-101; Siems, Lebensbild, S. 32-36. Zur Vorbildwirkung für das
angelsächsische Recht vgl. Wormald, The Making, S. 93-101; Jurasinski, Continental Origins.
193 King, Chindasvind; Koch, Ethnische Identität, S. 376.