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Ubl, Karl
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 9): Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs: die "Lex Salica" im Frankenreich — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73537#0167
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Karl der Große und die mystische Autorität des Rechts

waren unvollständig. Er ließ aber alle ungeschriebenen Rechte der von
ihm beherrschten Völker festsetzen und schriftlich aufzeichnen.5
Dieses vernichtende Urteil wirkt gerade deshalb in der historischen For-
schung so stark nach, weil Einhard nur an dieser Stelle offene Kritik an dem
Helden seiner Lebensbeschreibung übte. Wenn sogar Einhard diesen Makel
festhielt, wer sollte daran noch zweifeln?
Einhard lässt jedoch in seiner anspielungsreichen Kürze das Wesentliche
offen: Er setzt das Wissen darüber, was denn genau „mangelhaft" und „un-
vollständig" war, bei seinen Lesern voraus. Historiker haben diese Lücke mit
einem ganzen Arsenal von plausiblen Erklärungen gefüllt. Frangois Louis
Ganshof gab eine klassische Formulierung des Scheiterns, indem er eine Kluft
zwischen dem Ideal der Verschriftlichung des Rechts und den Schwierigkeiten
bei der Umsetzung konstatierte. Ganshof nahm die vielen Klagen in den Kapi-
tularien Karls über die fehlende Effektivität und lokale Umsetzung des Rechts
zum Anlass, eine „Überforderung" Karls und seiner Amtsträger festzustellen.
Das Ideal der Verschriftlichung, in erster Linie durch das Kaisertum und die
imperiale Idee an Karl herangetragen, sei deshalb bald wieder „verblasst".6
Andere Historiker wie Hermann Nehlsen und Patrick Wormald legten den
Akzent auf das Problem der mangelnden Schriftlichkeit im Frankenreich und
wiesen auf ein Nord-Süd-Gefälle hin. Während in den Reichen der Westgoten
und Langobarden eine intakte Schriftkultur vorhanden war und Kodifikationen
ständig aktualisiert wurden, habe man im Norden an den überkommenen Tex-
ten festgehalten und nur halbherzig alte durch neue Versionen ersetzt. Eine
Verschränkung von Rechtsbüchern und Kapitularien sei folglich nicht gelun-
gen.7 Neben diesen rechtshistorischen Argumenten wird in der Forschung auch
häufig auf den Gegensatz zwischen Königtum und Adel verwiesen, um die
Wirkungslosigkeit monarchischer Normsetzung zu erklären.8
Für das Scheitern der Rechtsreform gibt es also keinen Mangel an Erklä-
rungen. Und dies zu Recht. Schließlich ist unbestritten, dass die fränkische
Rechtsentwicklung in einer Sackgasse endete. Leges und Kapitularien, im 9. und
10. Jahrhundert in großer Zahl kopiert und verbreitet, wurden seit dem
11. Jahrhundert nicht mehr abgeschrieben und durch die „Rechtsrevolution" des
12. Jahrhunderts vollständig verdrängt. Aus der Vogelperspektive musste die
Rechtsreform scheitern, weil es keine Rechtschulen gab, keine Juristen und keine
Rechtswissenschaft - alles Voraussetzungen, die erst im 12. Jahrhundert ge-
schaffen wurden. Aber: War das auch die Perspektive Karls des Großen und
seiner Zeitgenossen? Äußerte er deshalb immer wieder seine Unzufriedenheit

5 Post susceptum imperiale nomen, cum adverteret multa legibus populi sui deesse - nam Franci duas
habent leges, in plurimis locis valde diversas - cogitavit quae deerant addere et discrepantia unire, prava
quoque ac perperam prolata corrigere, sed de bis nihil aliud ab eo factum est, nisi quod pauca capitula, et ea
inperfecta, legibus addidit. Omnium tarnen nationum, quae sub eins dominatu erant, iura quae scripta
non erant describere ac litteris mandari fecit. Einhard, Vita Karoli c. 29, S. 33.

6 Ganshof, Kapitularien, S. 149-151. Ähnlich Hartmann, Karl, S. 134.

7 Nehlsen, Aktualität, S. 471-475; Wormald, The Making, S. 66-69.

8 Becher, Karl der Große, S. 106; Fried, Karl der Große, S. 234.
 
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