Dieta Mystica
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Rechtsstaats an der Unfertigkeit seiner eigenen Zeit zerbricht.123 Die Popularität
dieses Narrativs verdanken wir Einhard, aber auch der Evidenz, dass die eu-
ropäische Rechtsgeschichte im 12. Jahrhundert ihren Anfang verortet und die
Zeit zuvor als Sackgasse disqualifiziert. Dieses Kapitel diente dazu, die Pläne des
Kaisers zu redimensionieren: Karl wollte weder die ausschließliche Geltung des
Schriftrechts durchsetzen noch stellte er das fränkische Recht radikal auf den
Prüfstand, wie Einhards imperiale Diktion nahelegt. Vielmehr erkennen wir seit
779 immer wieder neue Ansätze zur Reform des Rechts, deren Ziele keineswegs
utopisch waren. Vor Augen stand dem König nicht ein protomodernes Rechts-
system, wie es in der Spätantike in Geltung gewesen, aber schon seit vielen
Jahrhunderten im Norden Galliens untergegangen war; vor Augen stand ihm die
Rechtspolitik seiner merowingischen Vorgänger, in die er sich einreihen und die
er fortsetzen, ja übertreffen wollte. Die Kenntnis des Schriftrechts wurde schon
im ersten großen Schub an Gesetzgebung zwischen 787 und 789 eingefordert.
Zur gleichen Zeit entstand mit der E-Fassung ein emendierter und zumindest
eingeschränkt brauchbarer Text der Lex Salica. Um 800 nahm man am Hof des
Kaisers das Projekt erneut in Angriff, dieses Mal aber mit erheblich mehr edi-
torischem Aufwand und mit größerem Erfolg. Die K-Fassung ließ die im
8. Jahrhundert bekannten Texte weit hinter sich und bezog bei der Redaktion die
ältesten Überlieferungen des Rechtsbuchs ein. Am Ende stand ein brauchbarer,
durch Erläuterungen verständlicher und stabil tradierter Text.
Das Vorhandensein von nicht mehr gültigen Normen in der Karolina darf uns
dagegen nicht überraschen. Alle alten Rechtsbücher, die in der Zeit Karls des
Großen erneut kopiert wurden, enthalten obsolete und nicht mehr anwendbare
Regelungen. Dies gilt für das Kirchenrecht, ohne dass aus dieser Tatsache die
fehlende Aktualität und Effektivität der kanonischen Normen abgeleitet wür-
de.124 Dasselbe gilt auch für die Lex Salica: Neben vielen veralteten Normen
befand sich darin manches, was weiterhin für die Orientierung der Amtsträger
nützlich erscheinen konnte. Die Untersuchung von Kapitularien und Urkunden
gab zu erkennen, dass u.a. die Staffelung der Kompositionen sowie die Be-
stimmungen zu Falschaussage und Urteilsverweigerung weiterhin relevant
waren. Auch die Diskussion um die Höhe der fränkischen Wergeldsätze belegt
ihre fortwährende Relevanz. Dabei war dem Herrscher selbstverständlich be-
wusst, dass die Lex Salica nicht auf alle Rechtsfragen eine Antwort bereithält. In
der Frage der Gerichtsgebühren wies Karl einen Königsboten an, dass er das
Problem der Reichsversammlung vorlegen soll, wenn er darüber keine Regelung
in der Lex Salica finden könne.125
Die Benutzbarkeit war also ein wichtiges Ziel des Redaktors, welches aber
durch ein anderes Ziel konterkariert wurde: das Ziel der Bewahrung des Nor-
123 Zu solchen Narrativen vgl. Ubl, Rückkehr.
124 Siehe oben S. 27.
125 Responsa misso cuidam data c. 2, in: MGHCapit. I, Nr. 58, S. 145: Siautem ad salicam pertinet legem
et ibi minime repereris quid exindefacere debeas, ad placitum nostrum generale exinde interrogare facias.
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Rechtsstaats an der Unfertigkeit seiner eigenen Zeit zerbricht.123 Die Popularität
dieses Narrativs verdanken wir Einhard, aber auch der Evidenz, dass die eu-
ropäische Rechtsgeschichte im 12. Jahrhundert ihren Anfang verortet und die
Zeit zuvor als Sackgasse disqualifiziert. Dieses Kapitel diente dazu, die Pläne des
Kaisers zu redimensionieren: Karl wollte weder die ausschließliche Geltung des
Schriftrechts durchsetzen noch stellte er das fränkische Recht radikal auf den
Prüfstand, wie Einhards imperiale Diktion nahelegt. Vielmehr erkennen wir seit
779 immer wieder neue Ansätze zur Reform des Rechts, deren Ziele keineswegs
utopisch waren. Vor Augen stand dem König nicht ein protomodernes Rechts-
system, wie es in der Spätantike in Geltung gewesen, aber schon seit vielen
Jahrhunderten im Norden Galliens untergegangen war; vor Augen stand ihm die
Rechtspolitik seiner merowingischen Vorgänger, in die er sich einreihen und die
er fortsetzen, ja übertreffen wollte. Die Kenntnis des Schriftrechts wurde schon
im ersten großen Schub an Gesetzgebung zwischen 787 und 789 eingefordert.
Zur gleichen Zeit entstand mit der E-Fassung ein emendierter und zumindest
eingeschränkt brauchbarer Text der Lex Salica. Um 800 nahm man am Hof des
Kaisers das Projekt erneut in Angriff, dieses Mal aber mit erheblich mehr edi-
torischem Aufwand und mit größerem Erfolg. Die K-Fassung ließ die im
8. Jahrhundert bekannten Texte weit hinter sich und bezog bei der Redaktion die
ältesten Überlieferungen des Rechtsbuchs ein. Am Ende stand ein brauchbarer,
durch Erläuterungen verständlicher und stabil tradierter Text.
Das Vorhandensein von nicht mehr gültigen Normen in der Karolina darf uns
dagegen nicht überraschen. Alle alten Rechtsbücher, die in der Zeit Karls des
Großen erneut kopiert wurden, enthalten obsolete und nicht mehr anwendbare
Regelungen. Dies gilt für das Kirchenrecht, ohne dass aus dieser Tatsache die
fehlende Aktualität und Effektivität der kanonischen Normen abgeleitet wür-
de.124 Dasselbe gilt auch für die Lex Salica: Neben vielen veralteten Normen
befand sich darin manches, was weiterhin für die Orientierung der Amtsträger
nützlich erscheinen konnte. Die Untersuchung von Kapitularien und Urkunden
gab zu erkennen, dass u.a. die Staffelung der Kompositionen sowie die Be-
stimmungen zu Falschaussage und Urteilsverweigerung weiterhin relevant
waren. Auch die Diskussion um die Höhe der fränkischen Wergeldsätze belegt
ihre fortwährende Relevanz. Dabei war dem Herrscher selbstverständlich be-
wusst, dass die Lex Salica nicht auf alle Rechtsfragen eine Antwort bereithält. In
der Frage der Gerichtsgebühren wies Karl einen Königsboten an, dass er das
Problem der Reichsversammlung vorlegen soll, wenn er darüber keine Regelung
in der Lex Salica finden könne.125
Die Benutzbarkeit war also ein wichtiges Ziel des Redaktors, welches aber
durch ein anderes Ziel konterkariert wurde: das Ziel der Bewahrung des Nor-
123 Zu solchen Narrativen vgl. Ubl, Rückkehr.
124 Siehe oben S. 27.
125 Responsa misso cuidam data c. 2, in: MGHCapit. I, Nr. 58, S. 145: Siautem ad salicam pertinet legem
et ibi minime repereris quid exindefacere debeas, ad placitum nostrum generale exinde interrogare facias.