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Ubl, Karl
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 9): Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs: die "Lex Salica" im Frankenreich — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73537#0192
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Dieta Mystica

191

Alles in allem ergibt sich somit ein zumindest teilweise abgerundetes Bild:
Maßnahmen und Ziele sind einigermaßen stimmig aufeinander bezogen. Da-
neben sind jedoch auch Ambivalenzen deutlich geworden. Die Reformen von
802 sind deutlich von einer imperialen Konzeption der kaiserlichen Herrschaft
über den populus christianus durchdrungen. Karl parallelisierte seine Befehle mit
denen Gottes und verkündete mit dem Capitulare legibus additum ein Kapitular,
das allen Rechtsbüchern angefügt werden sollte. In der Rezeption wurde der
Erlass aber als ein fränkischer Rechtstext wahrgenommen. Aus der K-Fassung
wurde der lange Prolog, das Manifest fränkischer Hegemonie, ausgeschieden,
viele Handschriften der Zeit Karls des Großen fügen ihn jedoch wieder ein, wie
ich in Kapitel 8 zeigen werde. Der Eigensinn der Franken machte sich darüber
hinaus im Beharren auf einem höheren Wert des solidus und in der Niederschrift
eines Rechtsbuchs für die Franken am Rhein-Delta bemerkbar. Man muss dies
nicht als Hintertreiben der kaiserlichen Bemühungen verstehen, denn schließlich
gingen diese Dokumente und Handschriften aus demselben kleinen Zirkel von
hohen Amtsträgern hervor, die auch über den Erlass der Kapitularien beraten
haben. Ich möchte vielmehr vorschlagen, die Ambivalenzen so zu interpretieren,
wie wir die unterschiedlichen Konzeptionen in den überarbeiteten Reichsan-
nalen und in den Metzer Annalen zu lesen gelernt haben: als unterschiedliche
Stellungnahmen zu der für die Zeitgenossen wohl überwältigenden Dynamik
der Imperialisierung des Frankenreichs.130 Spannungen existierten somit zwi-
schen fränkischer und imperialer Identität, aber auch zwischen lex und capitula
sowie zwischen Sorgfalt in der Redaktion der Karolina und einer gewissen
Sorglosigkeit in der Ergänzung der Kapitularien. Diese Spannungen als eine
„clever technique of power"131 zu interpretieren, die dazu gedient habe, Unsi-
cherheit zu erzeugen und den König als letzte Instanz ins Spiel zu bringen,
überschätzt meines Erachtens die Souveränität Karls des Großen. Nur wenn die
Ambivalenzen ernst genommen werden, kann ermessen werden, welch
schwieriges Erbe Ludwig der Fromme antrat und welche Entwicklungen da-
durch freigesetzt wurden.

höchster Zurückhaltung. Es war eine Hinterlassenschaft, die man unangetastet bewahren

musste."

130 Vgl. Reimitz, Frankish Identity, S. 454: „The Carolingian experiment never managed fully to resolve
the tension between the wider inclusivity of the reformed politics of identity and the various
Frankish claims of Frankish exclusivity."

131 Davis, Charlemagne's Practice, S. 165 f.
 
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