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Transformation und Untergang des fränkischen Rechts
gemacht haben, war die Identität der Franken aufs engste mit der Vorstellung
verbunden, dass sie im Rechtsleben eine Sonderstellung genossen und nicht dem
römischen Recht unterworfen waren. Ein vereinzelter Fall aus der urkundlichen
Praxis belegt dies noch für das frühe 9. Jahrhundert: Ein Hintersasse namens
Maurinus aus dem burgundischen Perrecy-les-Forges behauptete die Zugehö-
rigkeit zum Recht der Lex Salica, um seine persönliche Freiheit zu erstreiten.4
Andere Quellen unterrichten uns davon, dass es in Gallien neben Richtern des
römischen Rechts auch iudices legis Salicae für die fränkischen Bewohner gegeben
hat.5
Die Vorstellung einer Sonderstellung der Franken ist der Kern der Lex Salica,
der auch von Karl dem Großen in seinen Bemühungen um die Reform des Rechts
im Frankenreich nicht angetastet wurde. Allein deshalb kann die Nachricht der
Glosse, dass römisches Recht ins fränkische Recht übernommen worden sei,
nicht den Tatsachen entsprechen. Erst hundert Jahre später erschien dies dem
Schreiber aus Reims möglich. Im ersten Teil des folgenden Kapitels werde ich
den langsamen Ablösungsprozess beschreiben, durch den seit Karl dem Großen
das Modell der Lex Salica zunehmend aus dem Diskurs über ethnische Identität
im Frankenreich verdrängt wurde. Verantwortlich dafür war die immer stärker
zunehmende Produktion von Kapitularien, die in der weithin anerkannten
Sammlung durch den Abt Ansegis von Fontenelle mündete. Dadurch war eine
neue Kodifikation geschaffen, die in Konkurrenz zur Lex Salica trat und in der
Recht allein durch königliche Autorität legitimiert wurde. Im zweiten Teil wende
ich mich der Kritik am Modell der Lex Salica zu, die seit der Zeit Karls des Großen
vermehrt geäußert wurde, und zwar besonders an denjenigen Verfahren und
Strafen, die im Gegensatz zum römischen Recht stehen. Dies war eine Folge der
Wiederentdeckung des römischen Rechts im 9. Jahrhundert - so muss man die
massenhafte Verbreitung römischer Rechtshandschriften in dieser Zeit wohl
bezeichnen. Im dritten und letzten Teil möchte ich zeigen, wie sich dieser Prozess
in den Erlassen Karls des Kahlen niedergeschlagen hat und warum er letztlich
dazu führte, dass die eingangs erwähnte Glosse fränkisches Recht mit dem Recht
der karolingischen Herrscher identifizierte. Als Recht galt am Ende des 9. Jahr-
hunderts, was Könige wie Karl und Pippin erlassen haben, egal ob es sich hin-
sichtlich seines Inhalts um fränkisches oder römisches Recht handelte.
4 Recueil des chartes de l'abbaye de Saint-Benoit-sur-Loire, Nr. 10, S. 25. Vgl. auch ebd. Nr. 12,
S. 28, sowie den Kommentar von Wormald, The Making, S. 77-79. Weitere Fälle nördlich der
Alpen im 9. Jahrhundert: Recueil des chartes de l'abbaye de Cluny, Nr. 15, Bd. I, S. 18; Holder-
Egger, Notizen, S. 635 = Hübner, Gerichtsurkunden I, S. 78 (Nr. 419). Zu den weit zahlreicheren
Fällen des 10. Jahrhunderts siehe unten S. 251.
5 Adrevald von Fleury, Miracula S. Benedicti c. 25, S. 489 f., mit Wormald, The Making, S. 30-32, und
Münsch, Lupus, S. 21-26; Cartulaire de l'abbaye de Saint-Victor de Marseille, Nr. 26, S. 33; Car-
tulaire du chapitre de l'eglise cathedrale Notre-Dame de Nimes, Nr. 8, S. 17.
Transformation und Untergang des fränkischen Rechts
gemacht haben, war die Identität der Franken aufs engste mit der Vorstellung
verbunden, dass sie im Rechtsleben eine Sonderstellung genossen und nicht dem
römischen Recht unterworfen waren. Ein vereinzelter Fall aus der urkundlichen
Praxis belegt dies noch für das frühe 9. Jahrhundert: Ein Hintersasse namens
Maurinus aus dem burgundischen Perrecy-les-Forges behauptete die Zugehö-
rigkeit zum Recht der Lex Salica, um seine persönliche Freiheit zu erstreiten.4
Andere Quellen unterrichten uns davon, dass es in Gallien neben Richtern des
römischen Rechts auch iudices legis Salicae für die fränkischen Bewohner gegeben
hat.5
Die Vorstellung einer Sonderstellung der Franken ist der Kern der Lex Salica,
der auch von Karl dem Großen in seinen Bemühungen um die Reform des Rechts
im Frankenreich nicht angetastet wurde. Allein deshalb kann die Nachricht der
Glosse, dass römisches Recht ins fränkische Recht übernommen worden sei,
nicht den Tatsachen entsprechen. Erst hundert Jahre später erschien dies dem
Schreiber aus Reims möglich. Im ersten Teil des folgenden Kapitels werde ich
den langsamen Ablösungsprozess beschreiben, durch den seit Karl dem Großen
das Modell der Lex Salica zunehmend aus dem Diskurs über ethnische Identität
im Frankenreich verdrängt wurde. Verantwortlich dafür war die immer stärker
zunehmende Produktion von Kapitularien, die in der weithin anerkannten
Sammlung durch den Abt Ansegis von Fontenelle mündete. Dadurch war eine
neue Kodifikation geschaffen, die in Konkurrenz zur Lex Salica trat und in der
Recht allein durch königliche Autorität legitimiert wurde. Im zweiten Teil wende
ich mich der Kritik am Modell der Lex Salica zu, die seit der Zeit Karls des Großen
vermehrt geäußert wurde, und zwar besonders an denjenigen Verfahren und
Strafen, die im Gegensatz zum römischen Recht stehen. Dies war eine Folge der
Wiederentdeckung des römischen Rechts im 9. Jahrhundert - so muss man die
massenhafte Verbreitung römischer Rechtshandschriften in dieser Zeit wohl
bezeichnen. Im dritten und letzten Teil möchte ich zeigen, wie sich dieser Prozess
in den Erlassen Karls des Kahlen niedergeschlagen hat und warum er letztlich
dazu führte, dass die eingangs erwähnte Glosse fränkisches Recht mit dem Recht
der karolingischen Herrscher identifizierte. Als Recht galt am Ende des 9. Jahr-
hunderts, was Könige wie Karl und Pippin erlassen haben, egal ob es sich hin-
sichtlich seines Inhalts um fränkisches oder römisches Recht handelte.
4 Recueil des chartes de l'abbaye de Saint-Benoit-sur-Loire, Nr. 10, S. 25. Vgl. auch ebd. Nr. 12,
S. 28, sowie den Kommentar von Wormald, The Making, S. 77-79. Weitere Fälle nördlich der
Alpen im 9. Jahrhundert: Recueil des chartes de l'abbaye de Cluny, Nr. 15, Bd. I, S. 18; Holder-
Egger, Notizen, S. 635 = Hübner, Gerichtsurkunden I, S. 78 (Nr. 419). Zu den weit zahlreicheren
Fällen des 10. Jahrhunderts siehe unten S. 251.
5 Adrevald von Fleury, Miracula S. Benedicti c. 25, S. 489 f., mit Wormald, The Making, S. 30-32, und
Münsch, Lupus, S. 21-26; Cartulaire de l'abbaye de Saint-Victor de Marseille, Nr. 26, S. 33; Car-
tulaire du chapitre de l'eglise cathedrale Notre-Dame de Nimes, Nr. 8, S. 17.