Von der Lex Salica zu den Leges Francorum
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anderen fokussierte er das Recht noch stärker auf das Königtum und auf das
römische Vorbild. Das Recht vermittelte für ihn zwischen König und fideles, die
gens fiel aus diesem Modell heraus. Dieser Wandel lässt sich nicht zuletzt als eine
Reaktion auf die Bedrohung durch die Normannen verstehen. In den Zeiten der
Invasion heidnischer Plünderer war es wichtiger, die Gemeinsamkeiten im In-
neren und das christliche Fundament der Gemeinschaft zu betonen als die
durchaus vorhandenen ethnischen Differenzen zwischen Franken, Aquitaniern,
Burgundern und Goten.
Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum der Autor der
Reimser Glosse nicht von der Aufnahme römischen Rechts in die Lex Salica,
sondern in die Leges Francorum spricht. Das fränkische Rechtsbuch firmiert zwar
in einigen Bücherverzeichnissen des 9. Jahrhunderts als lex Francorum, in den
meisten Fällen hat dieser Begriff jedoch wie regnum Francorum eine inklusive
Bedeutung und bezeichnet das Königsrecht, das Recht der Freien (Franci) oder
mitunter das Königsgericht.123 Wie wir gesehen haben, verwendete auch Ago-
bard von Lyon die Bezeichnung lex Francorum, um ein zukünftiges Reichsrecht
zu umschreiben, das durch biblisches und römisches Recht geprägt sein sollte.
Ähnliche Vorstellungen hatte wohl auch der Autor der Glosse vor Augen, wenn
er eine Kurzfassung des römischen Rechts kurzerhand als fränkisches Recht
umdeklarierte.
Die in diesem Kapitel skizzierten Entwicklungen brachen mit dem Tod Karls
des Kahlen mehr oder weniger abrupt ab. Nach der schweren dynastischen
Krise, die das Frankenreich seit den 880er Jahren heimsuchte, verschwand Ge-
setzgebung als Instrument monarchischer Herrschaft. Dass Gesetzgebung zum
Ende kam, sollte aber weder dem Herrscher selbst noch seinem Konzept an sich
zur Last gelegt werden. Es mag sein, dass Karl mehr Vertrauen in die Schrift-
lichkeit setzte, als es in einer Zeit der großen Fälschungen ratsam oder zweck-
mäßig war.124 Es mag auch sein, dass der Idee eines auf römischen Quellen
aufbauenden Rechts kaum dieselbe Kraft zur Mobilisierung innewohnte, welche
dem Modell des gentilen Rechts in den Jahrhunderten zuvor zukam. Es ist auch
möglich oder sogar wahrscheinlich, dass die eminent politische Indienstnahme
des Rechts durch Karl den Kahlen die Rezeption seiner Erlasse nicht gerade
beförderte. Akzeptanz der Normen entschied sich dann an der Frage politischer
Loyalität. Recht sollte aber „auch Recht bleiben wollen" (Droysen) - jenseits
politischer Instrumentalisierung. Die Krise des karolingischen Königtums in den
Jahrzehnten um 900 ist vor allem eine Folge verschiedener längerfristiger Ent-
wicklungen: der Auswirkungen der Teilungen seit 843, der Invasionen der
Normannen, des damit verbundenen Aufstiegs der Regionalgewalten und der
dynastischen Misere durch eine Häufung von Todesfällen in den 880er Jahren.125
Das Recht konnte auf diese Krise monarchischer Herrschaft keine Antworten
geben.
123 Siehe oben S. 207.
124 Koziol, Politics of Memory, S. 315-407.
125 Vgl. die differenzierte Darstellung bei MacLean, Charles the Fat.
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anderen fokussierte er das Recht noch stärker auf das Königtum und auf das
römische Vorbild. Das Recht vermittelte für ihn zwischen König und fideles, die
gens fiel aus diesem Modell heraus. Dieser Wandel lässt sich nicht zuletzt als eine
Reaktion auf die Bedrohung durch die Normannen verstehen. In den Zeiten der
Invasion heidnischer Plünderer war es wichtiger, die Gemeinsamkeiten im In-
neren und das christliche Fundament der Gemeinschaft zu betonen als die
durchaus vorhandenen ethnischen Differenzen zwischen Franken, Aquitaniern,
Burgundern und Goten.
Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum der Autor der
Reimser Glosse nicht von der Aufnahme römischen Rechts in die Lex Salica,
sondern in die Leges Francorum spricht. Das fränkische Rechtsbuch firmiert zwar
in einigen Bücherverzeichnissen des 9. Jahrhunderts als lex Francorum, in den
meisten Fällen hat dieser Begriff jedoch wie regnum Francorum eine inklusive
Bedeutung und bezeichnet das Königsrecht, das Recht der Freien (Franci) oder
mitunter das Königsgericht.123 Wie wir gesehen haben, verwendete auch Ago-
bard von Lyon die Bezeichnung lex Francorum, um ein zukünftiges Reichsrecht
zu umschreiben, das durch biblisches und römisches Recht geprägt sein sollte.
Ähnliche Vorstellungen hatte wohl auch der Autor der Glosse vor Augen, wenn
er eine Kurzfassung des römischen Rechts kurzerhand als fränkisches Recht
umdeklarierte.
Die in diesem Kapitel skizzierten Entwicklungen brachen mit dem Tod Karls
des Kahlen mehr oder weniger abrupt ab. Nach der schweren dynastischen
Krise, die das Frankenreich seit den 880er Jahren heimsuchte, verschwand Ge-
setzgebung als Instrument monarchischer Herrschaft. Dass Gesetzgebung zum
Ende kam, sollte aber weder dem Herrscher selbst noch seinem Konzept an sich
zur Last gelegt werden. Es mag sein, dass Karl mehr Vertrauen in die Schrift-
lichkeit setzte, als es in einer Zeit der großen Fälschungen ratsam oder zweck-
mäßig war.124 Es mag auch sein, dass der Idee eines auf römischen Quellen
aufbauenden Rechts kaum dieselbe Kraft zur Mobilisierung innewohnte, welche
dem Modell des gentilen Rechts in den Jahrhunderten zuvor zukam. Es ist auch
möglich oder sogar wahrscheinlich, dass die eminent politische Indienstnahme
des Rechts durch Karl den Kahlen die Rezeption seiner Erlasse nicht gerade
beförderte. Akzeptanz der Normen entschied sich dann an der Frage politischer
Loyalität. Recht sollte aber „auch Recht bleiben wollen" (Droysen) - jenseits
politischer Instrumentalisierung. Die Krise des karolingischen Königtums in den
Jahrzehnten um 900 ist vor allem eine Folge verschiedener längerfristiger Ent-
wicklungen: der Auswirkungen der Teilungen seit 843, der Invasionen der
Normannen, des damit verbundenen Aufstiegs der Regionalgewalten und der
dynastischen Misere durch eine Häufung von Todesfällen in den 880er Jahren.125
Das Recht konnte auf diese Krise monarchischer Herrschaft keine Antworten
geben.
123 Siehe oben S. 207.
124 Koziol, Politics of Memory, S. 315-407.
125 Vgl. die differenzierte Darstellung bei MacLean, Charles the Fat.